Darf eine muslimische Beamtin Kopftuch tragen? Soll das Caritas-Pflegeheim mit staatlichen Geldern gefördert werden? Soll es in der Schule Religionsunterricht geben? Darf der Papst vor dem Bundestag sprechen? Das Verhältnis von Religion und Staat bietet immer wieder Zündstoff für Debatten – je vielfältiger Deutschlands religiöse Landschaft aussieht, desto mehr. Zeit, ein paar grundsätzliche Überlegungen anzustellen!
„Deutschland braucht eine offene Religionspolitik, die allen Religionen und Weltanschauungen gleichen Zugang zum öffentlichen Raum und zu staatlicher Förderung einräumt und dabei die Freiheitsrechte aller Bürger wahrt.“ So ist das Ziel formuliert, für das ich mich gemeinsam mit den anderen Mitgliedern des Forum Offene Religionspolitik einsetze.
„Warum also brauchen wir eine offene Religionspolitik?“
Öffentlicher Raum? Staatliche Förderung? Unsere Ziele provozieren oft Widerspruch: „Religion ist Privatsache – die Politik soll sich aus Fragen der Religion einfach heraushalten!“ So oder so ähnlich klingen oft die ersten Reaktionen. Deutschland ist ein säkularer Staat, und das soll er auch bleiben. Warum also brauchen wir eine offene Religionspolitik?
Artikel 4 unserer Verfassung besagt: „Die Freiheit des Glaubens, des Gewissens und die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses sind unverletzlich.“ Jeder Mensch hat das Recht, sich zu der Religion oder Weltanschauung zu bekennen, von der er oder sie selbst überzeugt ist. Dieses Bekenntnis ist selbstverständlich Privatsache. Der Staat darf weder darauf hinwirken, dass Menschen sich Religionen zuwenden, noch, dass sich Menschen von Religionen und Weltanschauungen abwenden. Er muss die persönlichen Entscheidungen seiner Bürger_innen hinnehmen und sogar dafür Sorge tragen, dass jede_r seine/ihre Religion ungestört ausleben darf. So lange keine Gesetze überschritten und niemand anderes unzumutbar in seiner Freiheit eingeschränkt wird, darf der Staat sich nicht in die Religiosität seiner Bürger_innen einmischen.
„Jeder Mensch hat das Recht, seine Religion oder Weltanschauung in das öffentliche Leben einzubringen„
Dass Religion Privatsache ist, bedeutet aber nicht, dass der/die Einzelne dieses persönliche Bekenntnis nur hinter verschlossenen Türen äußern dürfte. Jeder Mensch hat das Recht, seine Religion oder Weltanschauung in das öffentliche Leben einzubringen. Dabei darf er/sie sich auch mit Gleichgesinnten organisieren – sei es in einer christlichen Kirche, einer muslimischen oder jüdischen Glaubensgemeinschaft oder dem humanistischen Verband.
Spannend wird es in der Frage, wie sich der weltanschaulich neutrale Staat zu diesen verschiedenen Bekenntnisgemeinschaften verhalten soll. Wir im Forum Offene Religionspolitik sagen: Das Verhältnis von Staat und Kirchen in Deutschland hat sich bewährt. Das bedeutet nicht, alles gutzuheißen, was zwischen Staat und Kirchen passiert. Man kann und darf darüber streiten, ob der Staat Kirchensteuern einziehen soll oder ob es angemessen ist, an christlichen Feiertagen öffentliche Tanzveranstaltungen zu verbieten. Grundsätzlich aber befürworten wir die Kooperation zwischen Kirchen und Staat.
Derartige Kooperation findet in vielen Bereichen statt. Ein Beispiel sind soziale Einrichtungen wie Kindertagesstätten, Schulen und Hospize. Der Staat fördert diese privaten Einrichtungen, weil sie soziale Leistungen erbringen. So kann etwa eine Kita, die in kirchlicher Trägerschaft ist, aus öffentlichen Mitteln gefördert werden. Von dieser Kooperation profitieren Eltern, die möchten, dass ihre Kinder in christlichem Rahmen aufwachsen und erzogen werden. Senior_innen, die ihr Leben lang sonntags zur Kirche gegangen sind, können in einem Pflegeheim in kirchlicher Trägerschaft weiterhin mit den anderen Bewohner_innen gemeinsam Gottesdienste feiern und die christlichen Feiertage begehen.
„Darüber hinaus fordern wir eine Ausweitung der Kooperationsangebote auch auf andere Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften“
Wichtig ist: Daneben besteht in Deutschland auch ein staatliches Angebot. Niemand ist gezwungen, sein Kind in einen christlichen Kindergarten oder seine pflegebedürftigen Angehörigen in eine christliche Einrichtung zu bringen. Die Bürger_innen haben die Wahlfreiheit. Diese muss gewahrt bleiben. Darüber hinaus fordern wir eine Ausweitung der Kooperationsangebote auch auf andere Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften. Vor fünfzig oder sechzig Jahren, als nahezu alle Deutschen Mitglieder der großen Kirchen waren, mag es zeitgemäß gewesen sein, nur mit diesen zu kooperieren. In unserer pluralen Gesellschaft verlangt es die staatliche Neutralität, auch anderen Bekenntnisgemeinschaften die Möglichkeiten einzuräumen, die den christlichen Kirchen offen stehen.
Auch in Schulen und Hochschulen kooperiert unser Staat mit den Kirchen. An staatlichen Universitäten gibt es evangelische und katholische theologische Fakultäten. Hier beschäftigen sich die Studierenden und Lehrenden aus der Perspektive des Glaubens mit dem Christentum. Die Kirchen haben ein Mitspracherecht bei wichtigen Entscheidungen wie der Gestaltung des Curriculums oder der Berufung von Professor_innen. An einer Reihe von Universitäten werden zur Zeit auch Studiengänge in islamischer Theologie aufgebaut. Diese Entwicklung ist positiv. Wir alle haben ein Interesse daran, dass sich Theolog_innen mit der Geschichte ihrer Religion, den heiligen Schriften und verschiedenen Auslegungen auseinandersetzen und damit auch anderen Gläubigen ein fundierteres Verständnis ihrer Religion weitergeben können.
„Ob konfessionsgebundener Religionsunterricht oder ein religionskundlicher Unterricht für alle die bessere Lösung ist – für beides gibt es gute Argumente“
Ähnlich sieht es in staatlichen Schulen aus: Hier besteht das Angebot, christlichen Religionsunterricht zu besuchen, in einigen Bundesländern gibt es in ausgewählten Schulen bereits Islamkunde als Unterrichtsfach und es wird nicht mehr lange dauern, bis islamischer Religionsunterricht angeboten werden wird. Die Kooperation zwischen dem Staat und den christlichen Kirchen wird hier also auch auf eine weitere große Religionsgemeinschaft in Deutschland ausgedehnt. Ich möchte hier nicht die Frage beantworten, ob konfessionsgebundener Religionsunterricht oder ein religionskundlicher Unterricht für alle die bessere Lösung ist – für beides gibt es gute Argumente. Wenn es christlichen und bald auch islamischen Religionsunterricht gibt, muss aber gelten: Wo Bedarf besteht, sollte auch anderen Bekenntnisgemeinschaften eine ähnliche Kooperation angeboten werden.
Auch über den Religionsunterricht hinaus werden in vielen Schulen christliche Traditionen gepflegt – Weihnachtsfeiern, Martinslaternen, Adventskränze. In manchen Gegenden werden unter der Woche Schulgottesdienste angeboten. Dagegen ist nichts einzuwenden. Die Schule als staatliche Institution ist zwar neutral. Niemand kann eine Schule dazu verpflichten, eine Weihnachtsfeier zu veranstalten. Wenn aber die Menschen, die das Schulleben gestalten, Wert auf religiöse Traditionen legen, darf das nicht per Gesetz unterbunden werden – ganz egal, ob es sich dabei um christliche oder auch um andere Traditionen handelt. Wo viele muslimische Schüler_innen im Klassenzimmer sitzen, ist es angemessen, auch ihre Traditionen im Schulleben sichtbar werden zu lassen. Und wo die Mehrzahl der Schüler_innen gar nicht religiös ist, muss auch kein religiöser Feiertag besonders begangen werden.
Ein heißes Eisen ist die Frage, ob Beamt_innen durch ihr Äußeres als religiöse Menschen erkennbar sein dürfen. Schließlich repräsentieren sie in ihrer Tätigkeit als Beamt_innen den Staat, und der Staat ist religiös und weltanschaulich neutral. Auch Beamt_innen, so ist momentan die klare juristische Lage, müssen daher in ihrem Äußeren neutral sein. Die Frage ist nur: Was soll ein „neutrales“ Äußeres sein?
„Der Staat selbst ist zwar neutral, seine Beamt_innen sind jedoch Individuen, von denen mache religiös sind, andere nicht“
Wer darunter die Abwesenheit aller Symbole oder Kleidungsstücke versteht, die einen Menschen als religiös erkenntlich machen (Kopftuch, Kreuz, Kippa), macht es sich zu einfach. Damit würde Beamt_innen kein „neutrales“, sondern ein säkulares Äußeres aufgezwungen. Es gibt Menschen, die sich mit einem solchen Aussehen wohlfühlen – ganz gleich, ob sie gläubig sind oder nicht. Es gibt aber auch religiöse Menschen, die ein solches Äußeres mit ihrem persönlichen Glauben nicht vereinbaren können. Wer Beamt_innen ein säkulares Äußeres vorschreibt, schließt diese Menschen faktisch von vielen Berufen aus. Das steht in Widerspruch zu Artikel 33 unseres Grundgesetzes, in dem es heißt: „[D]ie Zulassung zu öffentlichen Ämtern [ist] unabhängig von dem religiösen Bekenntnis. Niemandem darf aus seiner Zugehörigkeit oder Nichtzugehörigkeit zu einem Bekenntnisse oder einer Weltanschauung ein Nachteil erwachsen.“ Ein Staat, der seinen Beamt_innen ein säkulares Aussehen vorschreibt, verstößt gegen diesen Grundsatz. Die Alternative ist eine neue Definition staatlicher Neutralität im Sinne einer offenen Religionspolitik: Der Staat selbst ist zwar neutral, seine Beamt_innen sind jedoch Individuen, von denen mache religiös sind, andere nicht. Ein religiös-weltanschaulich offener Staat bringt diese Vielfalt auch durch seine Staatsdiener_innen zum Ausdruck.
„Eine offene Religionspolitik ist weder darauf ausgerichtet noch dazu geeignet, alle Konflikte in unserer Gesellschaft beizulegen“
Um einem Missverständnis vorzubeugen: Eine offene Religionspolitik ist weder darauf ausgerichtet noch dazu geeignet, alle Konflikte in unserer Gesellschaft beizulegen. Innerhalb wie zwischen den verschiedenen Religionsgemeinschaften haben Menschen ganz unterschiedliche Wertvorstellungen, und diese unterscheiden sich häufig wiederum von den Werten Nichtreligiöser. Dies wird immer zu Konflikten führen.
Sicherlich gibt es auch viele Gemeinsamkeiten. Aber diese reichen bei Weitem nicht aus, um daraus eine allumfassende Ordnung einer gemeinsamen Gesellschaft abzuleiten. Nur: Um eine allumfassende Ordnung geht es auch gar nicht. Vielmehr geht es einer offenen Religionspolitik darum, jedem Menschen so weit wie möglich die Freiheit einzuräumen, sein Leben so zu gestalten, wie er/sie selbst es für richtig hält. Der Staat darf nur im Notfall eingreifen: wenn das Wohl und die Freiheit anderer Menschen direkt bedroht oder beschnitten werden.
Dabei werden Menschen immer wieder Anstoß daran nehmen, was andere tun, es wird Empörung und erregte Debatten geben. Der konservative Katholik wird das traditionelle Familienbild hochhalten und sich über die Regenbogenfamilie von nebenan aufregen. Der Muslimin, die ihren Körper in der Öffentlichkeit bedeckt hält, wird es nicht gefallen, dass andere Frauen mit knappem Rock und tiefem Ausschnitt herumlaufen. Dem Nichtreligiösen wird es als Opium fürs Volk erscheinen, wenn Menschen in schwierigen Lebenslagen zum Gebet zusammenkommen. Trotzdem ist es das Recht all dieser Menschen, so zu leben, wie sie selbst es für sich wählen. Das zu ertragen mag anstrengender und unübersichtlicher sein als eine vermeintlich homogene Gesellschaft, in der alle dem selben Lebensentwurf folgen. Aber dieser Zumutung müssen wir uns aussetzen: Sie ist der Preis für eine freie Gesellschaft.