Wir werden nicht zusammen Kumbaya singen

    Eine freiheitliche Gesellschaft ist immer vielfältig. Sobald Menschen frei sind, entwickeln sie sich auseinander. Sie gehen unterschiedliche Wege. Sie gehen ihren jeweils eigenen Weg. Manche von ihnen finden sich dabei wieder zusammen – niemals aber alle. Die größte Gefahr für die Freiheit ist der Wunsch, dass alle Menschen einen Weg gemeinsam gehen sollen, gar ein gemeinsames Schicksal haben.

    Zwei Beispiele zeigen, wie ein Zusammenleben in Freiheit und Unterschiedlichkeit möglich ist – und wohin es führen kann, wenn Menschen einander diese Freiheit nicht zugestehen wollen.

    Beispiel im Kleinen: Berlin, 1. September 2012: Das Land feiert mit einem Festakt im Rathaus die erste Lange Nacht der Religionen. Im Saal anwesend sind Menschen der verschiedensten religiösen Gruppen: Christen großer und kleiner Kirchen, Muslime, Bahā’ī, Hindus, Buddhisten, Sikhs und viele andere. Sie alle sind vereint in Eintracht, so scheint es. Die Redner des Abends heben die Bedeutung des interreligiösen Dialogs hervor und die Gemeinsamkeiten ihrer Traditionen. Die Harmonie ist ungebrochen, bis die spirituelle Schweigeminute eingeläutet ist. Plötzlich singt eine Frau in bester Kirchenchortradition: „Die lange Nacht der Finsternis. Ihr habt Dämonen eingeladen!“ Die Menge ist verwundet, aber still. Die Sicherheitskräfte beziehen Position, lassen die Frau aber gewähren. Später hebt sie noch einmal an, aber auch dann passiert nichts. Im Anschluss an die Veranstaltung spreche ich mit einer Frau, die sich mit der Sängerin engagiert – gegen den moralischen Verfall in Berlin, die Verwischung der Religionen, die Politik. Ihr Sohn trägt ein T-Shirt mit Aufschrift. Vorn: „U turn“. Hinten: „or burn“. Zu dem sittlichen Verfall, den sie anprangert, leiste ich als Gottloser sicherlich einen Beitrag – wenn auch einen bescheidenen. Dennoch fand ich die Intervention dieser fundamentalistischen Christinnen auf eine Weise auch bereichernd: Sie haben gezeigt, dass wir eben nicht alle gleich denken, nicht alle gleich glauben. Es ist leicht, tolerant zu sein, wenn der andere nicht anders ist, wenn ich mich in dem anderen erkenne. Die wahre Toleranz beginnt aber erst darin, auch den anderen zuzulassen, der mir vollkommen fremd ist, in dem ich mich nicht wiedererkenne. Mich hat gefreut, dass die Sicherheitskräfte nicht eingegriffen haben. Die Situation wurde ohne Gewalt gelöst.

    Beispiel im Großen: Youtube, 11. September 2012: Ein Video, das seit Juli online ist, erhält plötzlich Klickzahlen in Millionenhöhe. Sein Inhalt: Ziemlich plumpe Beleidigungen gegen den islamischen Propheten Mohammed. Verantwortlich für den Film ist ein koptischer Christ, der ganz offensichtlich noch Rechnungen mit Muslimen offen hat. Was folgt, ist bekannt. Ich kann das Beispiel kurz halten: In vielen muslimischen Ländern demonstrieren Hunderttausende, aufgebrachte Mobs stürmen Botschaften. Der US-Botschafter in Bengasi wird gar gelyncht. Etliche Demonstranten geben für den Protest gegen das Video vor Botschaften ihr Leben.

    Wo auch immer Freiheit herrscht, und sei dieser Raum noch so klein, werden Menschen ihre Unterschiede in die Öffentlichkeit tragen. Das ist ihr gutes Recht, das ist das Wesen der Freiheit. Jeder hat das Recht, seine Werthaltung, dass andere Lebensentwürfe falsch sind, öffentlich auszusprechen (oder zu singen oder einen Film darüber zu drehen). Jeder andere hat wiederum das Recht, sich darüber zu empören (und auf die Straße zu gehen). Niemand aber darf die Stimmen, die die Harmonie stören, aus der Öffentlichkeit verbannen und sie zensieren. Und: Niemand hat das Recht Gewalt auszuüben und zu morden, weil er beleidigt ist. Es muss ein tiefer Graben liegen zwischen berechtigter öffentlicher Empörung und Gewaltanwendung. In vielen muslimischen Ländern besteht in dieser Frage Nachholbedarf, der zu erklären, aber nicht zu entschuldigen ist. Dass es sich in der Frage dennoch nicht um einen Kampf der Kulturen handelt, zeigen die vielen Solidaritätsbekundungen von Muslimen weltweit und besonders in Libyen mit den Opfern der Gewalt – was viele Medien indes unterschlagen. Wir werden niemals alle zusammen Kumbaya singen. Wenn aber jeder einzelne von uns sein Lied singen kann – auch wenn anderen das nicht gefällt – sind wir weit gekommen.

    Dr. Sven Speer ist Vorsitzender des Forums Offene Religionspolitik (FOR) seit dessen Gründung 2011. Als Mitarbeiter und im Rahmen von Vorträgen und Gutachten berät er Regierungsorganisationen, Abgeordnete, Religionsgemeinschaften und Verbände zum Verhältnis von Staat und Religion – u.a. in Berlin, Jerusalem, Beirut, Kairo, Washington D.C., Houston und Salt Lake City. Er ist darüber hinaus Co-Founder von inteero, einer Plattform für Online-Einrichtungsberatung. Speer hat Politikwissenschaft und Geschichte studiert und am Exzellenzcluster ‚Religion und Politik‘, am German Marshall Fund of the United States und am Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien zur politischen Regulierung von Religion geforscht.