Wie machen es die anderen? Religionspolitik in den Niederlanden

    Staatliche Anerkennung von Religionsgemeinschaften, Einbindung von Kirchen als Körperschaften der Öffentlichen Rechts, Einziehung einer Kirchensteuer über die öffentlichen Finanzämter:  All dies sind deutsche Besonderheiten im Verhältnis von Staat und Religion,  die sich von der Religionspolitik anderer westlicher Länder (mehr oder weniger) deutlich unterscheiden. Das soll am Beispiel des Nachbarn Niederlande verdeutlicht werden.

    Eine staatliche Anerkennung von Religionsgemeinschaften gibt es in den Niederlanden traditionell nicht. Hier liegt es bei den Organisationen selbst, sich als religiös zu definieren. Sie gelten dann als Vereine eigener Art (sui generis) und dürfen ihre inneren Verwaltungsstrukturen selbst bestimmen. Wie andere Vereine auch sind sie für ihre Finanzierung selbst verantwortlich, eine Kirchensteuer ist nicht vorgesehen.

    [pullquote_right]Nicht zuletzt am Beispiel des Umgangs mit dem Islam entscheidet sich also, wie sich die zukünftige niederländische Religionspolitik entwickeln wird. [/pullquote_right]Dennoch kann auch in den Niederlanden nicht von einer strikten Trennung von Religion und Staat gesprochen werden. Vielmehr kommt den Religionsgemeinschaften traditionell im öffentlichen Raum eine wichtige Rolle zu. Diese Rolle hat ihren Ursprung in der Geschichte der ‚Versäulung‘ der niederländischen Gesellschaft.  Bis in die 1960er Jahre war die Gesellschaft – den früheren Milieus in Deutschland ähnlich – in verschiedene so genannte Säulen unterteilt: eine orthodox-protestantische, eine katholische, eine liberale und später auch eine sozialistische Säule. Jede dieser Säulen verfügte über eigene Parteien, Gewerkschaften, Interessenverbände, Medien, (konfessionelle) Schulsysteme, Krankenhäuser sowie Freizeit- und Kulturorganisationen. Kontakte zwischen Angehörigen der Säulen fanden nur zwischen den jeweiligen Eliten statt. Sie bildeten gemeinsam die Regierung – und damit das Dach – der niederländischen Gesellschaft. In den beiden religiösen Säulen spielten die Kirchen als Ort der Emanzipation und der Geborgenheit eine zentrale Rolle. Seit den 1960er Jahren hat sich die Säulenstruktur jedoch immer weiter aufgelöst. Hierunter hatten und haben vor allem die Kirchen zu leiden, deren Mitgliederzahlen deutlich zurückgegangen sind: Heute gehören nur noch 44% der niederländischen Bevölkerung einer christlichen Kirche an.

    Trotz ihres Bedeutungsverlustes sind die Kirchen jedoch auch heute noch bedeutende Akteure innerhalb der Zivilgesellschaft (niederländisch: maatschappelijke middenveld). Ihre Rolle ergibt sich dabei vor allem aus dem Prinzip der staatlichen Gleichbehandlung aller – religiöser wie nicht-religiöser – zivilgesellschaftlicher Organisationen, die als legitime Vertreter verschiedener gesellschaftlicher Gruppen im öffentlichen Raum willkommen sind. Aufgrund dieses Prinzips kann der Staat grundsätzlich auch kleinere Religionsgemeinschaften gezielt fördern, um sicherzustellen, dass ein religiöser Pluralismus verwirklicht wird. Darüber hinaus sind die meisten der basisscholen (Klassen 1 bis 8) bis heute konfessionsgebundene Privatschulen.

    Dennoch ist die Auflösung der religiösen Säulen folgenreich für die Debatte um Religionen im öffentlichen Raum. Vor allem in den letzten Jahren gewinnen politische Forderungen an Gewicht, die eine stärkere Trennung von Religion und Staat fordern und daher jegliche Kooperationen des Staates mit religiösen Organisationen kritisch sehen. Dieses wirkt sich vor allem zulasten neuer Religionen wie dem Islam aus, dem ca. 1 Million Menschen (und damit 6% der Bevölkerung) angehören. Es gibt zwar gut 40 muslimische basisscholen, die große Mehrheit der islamischen Kinder geht jedoch auf staatliche oder christliche Schulen. Neuen muslimischen Schulen wird auch aufgrund integrationspolitischer Erwägungen inzwischen zumeist die staatliche Zulassung verwehrt. Gerade der Islam ist zu einem der größten politischen Streitthemen geworden.  Verschiedene rechtspopulistische Politiker und deren Parteien haben davon in den letzten 10 Jahren stark profitiert. Derzeit bildet die Partij Voor de Vrijheid (Partei für die Freiheit, PVV) von Geert Wilders die drittgrößte Fraktion im Parlament (ca. 15% bei den Wahlen 2010), die bis vor kurzem eine christlich-liberale Minderheitenkoalition stützte. Wilders provoziert mit Forderungen nach einem absoluten Einwanderungsstopp aus islamisch geprägten Ländern und nach einer „Kopftuchsteuer“ für das Tragen des muslimischen Kopftuchs in der Öffentlichkeit. Den Koran, den er als „faschistisches Buch“ bezeichnet und mit „Mein Kampf“ vergleicht, will er verbieten lassen.

    Nicht zuletzt am Beispiel des Umgangs mit dem Islam entscheidet sich also, wie sich die zukünftige niederländische Religionspolitik entwickeln wird: ob sie religiöse Individuen und Organisationen im öffentlichen Raum als legitime Stimmen einer pluralen Zivilgesellschaft fördern oder Religion und Staat strikter voneinander trennen wird. Letzteres könnte dazu führen, dass Kirchen und anderen Religionsgemeinschaften als Akteure in öffentlichen Debatten an Bedeutung verlieren.

    Matthias Kortmann ist Politikwissenschaftler und war stellvertretender Vorsitzender des Forums Offene Religionspolitik. Er ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Politische Systeme und Europäische Integration des Geschwister-Scholl-Instituts für Politische Wissenschaft (GSI) an der Ludwigs-Maximilians-Universität München (LMU). Nach Abschluss seines Magisterstudiums (2005) und der Promotion zum Dr. Phil. (2010) an der Universität Münster war er am Institute for Migration and Ethnic Studies (IMES) der Universiteit van Amsterdam (2011-2012) sowie an der Sozial- und Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Universität Potsdam (2012-2013) tätig. Seine Forschungsschwerpunkte mit Bezug zur Religionspolitik liegen auf der Integration des Islam in christlich geprägten Gesellschaften sowie religiösen Organisationen als Interessengruppen.