Wenn wir biologistisch argumentieren, entmündigen wir uns selbst

    von Sven W. Speer

    Die Debatte über den richtigen Umgang mit Homosexuellen und Homosexualität entwickelt sich in eine Richtung, die die Freiheit jedes Einzelnen in der Gesellschaft bedroht. Noch bis weit in die Neuzeit herein galten homosexuelle Handlungen als Sünde, eine Verfehlung. In der Moderne wandelte sich dieses Bild hin zu einer psychischen Erkrankung und schließlich zu einem genetischen Defekt bzw. einer genetischen (Prä-)Disposition. Das Bild der genetischen Veranlagung nutzen heute nicht wenige, um daraus Anerkennung für Schwule und Lesben einzufordern – gemäß dem Motto: „Für was ich nichts kann, dafür kann ich nicht bestraft werden.“ Das Problem dabei ist, dass sich die Streiter für Gleichberechtigung damit auf eine biologistische Diskussion einlassen.

    Genüsslich üben sich nun Gegner der Gleichberechtigung wie Matthias Matussek in der Evolutionstheorie („Ich bin wohl homophob. Und das ist auch gut so“). Gleichgeschechtliche Partnerschaften seien minderwertig, da aus ihnen auf natürlichem Wege keine Nachkommen hervorgingen – dass die Möglichkeit der Adoption hingegen nicht von der Natur, sondern vom Staat unterbunden wird, wird dabei gekonnt ignoriert. Klammern wir die Adoption aus, so stellt sich dennoch die Frage, ob Kinderlosigkeit biologisch betrachtet tatsächlich minderwertig ist. Ein Bienenvolk besteht aus etwa 50.000 Bienen. Die meisten davon Arbeiterinnen, die sich nicht fortpflanzen. Die Nachkommen bringt eine einzige Königin zur Welt. Die männlichen Drohnen sterben beim Geschlechtsakt. Freilich, ohne die Königin gibt es keine Nachkommen; aber ohne Tausende Arbeiterinnen auch nicht – und keine Bienen, wie wir sie kennen. Auch dass Homosexualität bei über 1500 Tierarten in freier Natur beobachtet werden kann, Homophobie jedoch nur bei einer einzigen (dem homo sapiens), macht die biologistische Argumentation gegen Homosexuelle nicht gerade leicht.

    Dennoch ist die biologistische Argumentation fatal, zumal diejenigen, die am lautesten auf die Gesetze der Natur pochen, häufig genug an die Jungfrauengeburt Christi glauben. An Absurdität ist dieser Zusammenhang kaum zu überbieten – und zwar nicht wegen des Glaubens an die Jungfräulichkeit Marias – sondern, weil der Glaube an Übernatürliches uns eigentlich erst über die Tierwelt und ihre Gesetze erhebt. Und mit diesem Übernatürlichen meine ich sowohl religiöse Überzeugungen als auch säkulare Werthaltungen. Mit der szientistisch aus der Biologie abgeleiteten Ideologie opfern wir in vermeintlicher Rationalität die zentrale Errungenschaft der Aufklärung: die Idee, ein Mensch kann sich frei entscheiden und muss sich frei entfalten können – unabhängig von den Fesseln von Natur und Gesellschaft.

    Auch auf die religiösen Kritiker der Homosexuellen wird es zurückfallen, wenn Andersartigkeit künftig nur noch erlaubt ist, wenn sie biologisch ihre Nützlichkeit – oder Unabwendbarkeit – bewiesen hat. Werden Klöster und Orden geschlossen, weil sie gesellschaftlich nicht produktiv genug sind, wie bereits in der Frühen Neuzeit geschehen? Wird der Religionsunterricht künftig nur noch Kindern erteilt, die über einen besonders aktiven Schläfenlappen im Gehirn verfügen? Braucht eine muslimische Frau eine genetische Disposition, damit man ihr glaubt, dass sie das Kopftuch freiwillig trägt?

    Wenn wir biologistisch argumentieren, entmündigen wir uns selbst – ganz gleich, wer und was wir sind und wie wir leben wollen. Mit der Biologie als Gesellschaftswissenschaft verleugnen wir den Funken der Freiheit im Menschen, der vielleicht göttlich ist. Wir verleugnen, dass jeder Mensch – jenseits seiner Nützlichkeit – einen Wert hat, der gegen den Wert anderer Menschen nicht aufgewogen werden darf.

    Jeder Mensch hat das Recht, anders zu sein, seinen eigenen Weg zu gehen und damit anzuecken – unabhängig davon, ob dies genetisch oder kulturell bedingt oder seine freie Entscheidung ist. Freiheit darf nicht voraussetzungsvoll sein. Von daher ist der alte Diskurs über die Sünde vermutlich freiheitsfördernder als der über genetische Anlagen. Denn Sünde können wir Menschen (mit oder ohne Gott) selbst definieren. Den Gesetzen der Natur aber können wir uns nur unterwerfen.

    Dr. Sven Speer ist Vorsitzender des Forums Offene Religionspolitik (FOR) seit dessen Gründung 2011. Als Mitarbeiter und im Rahmen von Vorträgen und Gutachten berät er Regierungsorganisationen, Abgeordnete, Religionsgemeinschaften und Verbände zum Verhältnis von Staat und Religion – u.a. in Berlin, Jerusalem, Beirut, Kairo, Washington D.C., Houston und Salt Lake City. Er ist darüber hinaus Co-Founder von inteero, einer Plattform für Online-Einrichtungsberatung. Speer hat Politikwissenschaft und Geschichte studiert und am Exzellenzcluster ‚Religion und Politik‘, am German Marshall Fund of the United States und am Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien zur politischen Regulierung von Religion geforscht.