Von Verstehen und Verständnis – Ein Zwischenruf in der Beschneidungsdebatte

    Freitagabend in einer Synagoge in einer großen deutschen Stadt: Jüdinnen und Juden versammeln sich, um den Beginn des Shabbat zu begehen. Der Shabbat ist zusammen mit der Beschneidung das jüdische Identitätsmerkmal schlechthin. Das Volk Israel, das einen großen Teil seiner über 3000jährigen Geschichte in Vertreibung über die ganze Welt verteilt zugebracht hat, besteht heute noch aufgrund dieser beiden Merkmale: des für alle verbindlichen Ruhetags – den das Christentum geerbt hat – und der Beschneidung der männlichen Nachkommen am 8. Tag nach der Geburt. Dessen sind sich die hier versammelten bewusst – viele, die draußen über ein Kölner Urteil diskutieren, nicht. Hier wären sie froh, die vielen Blogger, Poster, Politiker und auch die sogenannten „namhaften“ Mediziner und Juristen würden mal mit ihnen reden.

    Wann ist ein Mann ein Mann und wer darf es entscheiden? – Paternalismus pur

    Aus medizinischen wie aus religiösen Gründen beschnittene Männer, mit denen ich rede, sind zumindest irritiert. Da bescheinigt ihnen ein Gericht, sie seien „versehrt“ (Bedeutung: körperbehindert, invalide, schwer beschädigt) und Kinderrechtlerinnen halten sie für „verstümmelt“. Dass sie weder das eine noch das andere für ihren Penis in Anspruch nehmen würden, stört in der Debatte niemanden. Säuglinge können sich noch nicht zu ihrer Beschneidung äußern. Die beschnittenen Erwachsenen zu fragen scheint den meisten indes nicht naheliegend zu sein. So kommt es, dass christlich-humanistisch geprägte Politiker, Ärzte und Juristen darüber diskutieren, wie man die armen Kinder vor den Messern der Beschneider schützen kann, ohne sich bewusst zu machen, dass jüdische und muslimische Jungen und Männer vielleicht nicht gerettet werden möchten. Viele dieser „aufgeklärten“ Kritiker mögen sich nicht vorstellen, dass ein ihnen weitestgehend unbekanntes Ritual tatsächlich von den Betroffenen befürwortet werden könnte. Und da nicht sein kann, was nicht sein darf, scheint der Ruf nach dem Verbot angemessen. Dass dies Paternalismus pur ist, geht den meisten Verbotsbefürwortern  nicht auf.

    Abwegiges am Rande…

    Wahrlich krude wird es, wenn das Kölner Gericht die Freiheit der Kinder gefährdet sieht, sich später für eine andere Religion zu entscheiden. Sind einmal beschnittene Menschen nicht mehr frei ihre Religion zu wählen? Tatsächlich könnte man sagen: einmal Jude, immer Jude. Gleiches gilt aber auch für die Taufe. Dennoch treten jedes Jahr Menschen aus der Kirche aus bzw. ein. Diese Freiheit garantiert ihnen das Grundgesetz. Dieselbe Freiheit haben auch Muslime oder Juden, die als Kinder beschnitten wurden.

    Ähnlich halbherzig wirkt es, wenn die Grünen-Politikerin Irmingard Schewe-Gerigk der F.A.S. sagt, sie fürchte, durch eine  Legalisierung der Beschneidung bei Jungen könnte auch die Beschneidung bei Mädchen hier zu Lande Einzug halten. Die Beschneidung von Jungen ist weltweite Praxis und für HIV-gefährdete Regionen von der Weltgesundheitsorganisation sogar empfohlen. Mädchen zu beschneiden ist eine Genitalverstümmelung, die in Deutschland ausdrücklich verboten und von der UN geächtet ist. Bin ich naiv zu  meinen, dass der Gesetzgeberin der Lange sein müsste, rechtlich das Abtrennen der Vorhaut vom Beschneiden und Zunähen der Vagina zu unterscheiden?

    Kindeswohl, was ist das?

    Bei den zahlreichen Debattenbeiträgen liegen mir die Bedenken der Kinderrechtlerinnen am nächsten. In unserer Gesellschaft wird Religion immer erklärungsbedürftiger. Es muss daher darüber diskutiert werden dürfen, ob die religiös begründete Beschneidung  im Interesse des Kindes legitim sein kann. So weit gehe ich mit. Häufig wird jedoch argumentiert, dass die Beschneidung mit dem Kindeswohl nicht vereinbar wäre. Diese Haltung lässt aber nur den Schluss zu, dass jüdische und muslimische Eltern offenbar das Wohl ihres Kindes nicht im Blick haben, wenn sie den Termin zur Beschneidung vereinbaren. Sind muslimische Eltern Sadisten? Sind jüdische Eltern nicht aufgeklärt genug? Oder sind sie nicht vielmehr der Meinung, mit ihrer Entscheidung ihren Söhnen etwas Gutes tun, nämlich sie hinein zu nehmen in den Bund mit Gott? Kann ein Aufwachsen in dem Bewusstsein, zusammen mit den Verwandten und Freunden zu Gott zu gehören, nicht förderlich sein für das Wohl des Kindes? Laut Artikel 14 der Kinderrechtskonvention der UN haben Kinder ein Recht darauf, in einer Religion aufzuwachsen. Als Junge im Judentum aufzuwachsen bedeutet beschnitten zu sein.

    Dem entgegen steht der Anspruch, dass nicht willkürlich an Kindern herumgeschnitten werden darf, auch wenn es die eigenen sind. Hier muss ohne Zweifel der Staat eingreifen können. Im Fall der Knabenbeschneidung ist die Religionsfreiheit gegen diesen Grundsatz abzuwägen. Hier steht nun eines der Grundelemente jüdischen Lebens einem kleinen Eingriff gegenüber, dessen Wunde bei Säuglingen in der Regel nach einem Tag verheilt ist.

    Wenn Eltern entscheiden, welche Schule ihr Kind besuchen soll, oder wenn sie seine Ernährung in die Hände von Fastfoodketten legen, beeinflussen sie den Lebensweg ihres Kindes dadurch nicht viel stärker, fügen sie ihrem Kind nicht viel mehr Leiden zu, als durch die Entscheidung für oder gegen eine Beschneidung?

    Erstmal tief durchatmen

    Wenn es um Religion geht, werden schnell Emotionen und Assoziationen wach. Hier hilft es, einen kühlen Kopf zu bewahren, sich Zeit zu nehmen um den Betroffenen zuzuhören und die Argumente zu gewichten. Dadurch mag man zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen. Aber man ist zumindest vor oberlehrerhaftem Paternalismus und zu einfachen Stereotypen gefeit.

    Steve Kennedy Henkel studiert an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn Evangelische Theologie auf kirchliches Examen. Darüber hinaus engagiert er sich in der Evangelischen Jugend, etwa als Jugenddelegierter in der Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), dem Kirchenparlament der Evangelischen Kirche. Dort arbeitet er im Ausschuss „Kirche Gesellschaft und Staat“ mit.