Strukturförderung für Religion? Gedanken zu Staatsleistungen

    Der Verfassungsrechtler Paul Kirchhof forderte einen „Rettungsschirm“ für Religion auf dem Deutschen Juristentag 2010.[1] Dieser Rettungsschirm käme, so glaube ich, einer Strukturförderung gleich, verstanden als staatliche Unterstützung zum Erhalt und Ausbau der Struktur einer Organisation. Kirchhofs Zielgruppe sind dabei die „Träger unserer Kultur, auf die diese Verfassung baut, die aber substanziell gefährdet sind“. Im Auge hat er dabei also wohl in erster Linie die römisch-katholische Kirche und die evangelischen Landeskirchen. Denn zahlreiche kleine Gemeinschaften wie das Katholische Bistum der Altkatholiken, die Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage oder der Humanistische Verband wachsen zwar nicht rasant, haben aber stabile Mitgliederzahlen.

    Bereits jetzt nutzt der Staat ein Instrument zur religiösen Strukturförderung: die Staatsleistungen, die Bund, Länder und Kommunen an die großen Kirchen und einige kleinere Gemeinschaften zahlen. Der vorliegende Beitrag gibt einen Überblick zu den Staatsleistungen in Deutschland. Er konzentriert sich dabei aber nicht auf die beiden großen Kirchen, sondern bezieht die Staatsleistungen an kleinere Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften mit ein. Der Beitrag schließt mit Gedanken dazu, wie das System der Staatsleistungen an die religiös-weltanschauliche Vielfalt angepasst werden muss, wenn es beibehalten werden soll.

    Die Staatsleistungen werden zum Teil durch alte Rechtstitel begründet, zum Teil durch neue Verträge und manche vollkommen freiwillig durch den Staat. Der Umfang der Staatsleistungen an die großen Kirchen umfasst jedes Jahr etwa 475 Millionen Euro.[2] Da die Staatsleistungen gemäß zahlreichen Verträgen steigen, werden es von Jahr zu Jahr mehr – auch wenn weniger Menschen Mitglied der entsprechenden Kirchen sind. Die Staatsleistungen an die großen Kirchen werden unabhängig von ihrer Anhängerschaft angesetzt. So zahlt Sachsen-Anhalt mit 29 Millionen Euro mehr Staatsleistungen an die beiden Kirchen als Nordrhein-Westfalen (21 Millionen Euro). Umgerechnet auf die Mitgliederzahlen ergeben sich in Sachsen-Anhalt 12 Euro pro Kopf, in Nordrhein-Westfalen nicht einmal 1,20 Euro.[3] Die Ablösung der Staatsleistungen ist gemäß Artikel 140 des Grundgesetzes in Verbindung mit Artikel 138 Absatz 1 der Weimarer Reichsverfassung lange überfällig. Statt der Ablösung der Staatsleistungen erleben wir –trotz der Ablösung kleinerer Verpflichtungen in Bayern – eine Ausweitung. Davon profitieren nicht die beiden großen Kirchen, sondern auch kleinere Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften. Beispielhaft dafür sei hier die Praxis in Bayern und Berlin dargestellt.

    Der Freistaat Bayern zahlt Staatsdotationen an alle damit bedachten Gemeinschaften in gleicher Höhe für jedes Mitglied aus.[4] Der Betrag müsste bei knapp 7 Euro pro Angehörigem liegen.[5] Davon profitieren die Alt-Katholische Kirche in Bayern, der Bund für Geistesfreiheit in Bayern, die Griechisch-Orthodoxe Metropolie (Vikariat Bayern), die Russisch-Orthodoxe Kirche in Bayern, der Bund Evangelisch-Freikirchlicher Gemeinden in Deutschland, Vereinigung Bayern, die Evangelisch-Methodistische Kirche in Bayern, die Rumänisch-Orthodoxe Kirche in Bayern und seit 2007 der Humanistische Verband Deutschlands-Bayern. Nach oben abweichend ist nur die Förderung des Landesverbands der Israelitischen Kultusgemeinde[6] – aus historisch nahe liegenden Gründen. Auch wenn nicht alle Bekenntnisgemeinschaften unterstützt werden – so zum Beispiel keine islamische – so wird doch zumindest ein breites Feld abgedeckt.

    Auch in Berlin sind die Staatsleistungen der beiden großen Kirchen durch Verträge abgesichert. Andere Gemeinschaften „erhalten nach ihrer Größe und Bedeutung Zuwendungen“[7]. Auch das Land Berlin unterstützt die Jüdische Gemeinde (10.000 Mitglieder) mit sehr hohen Zuschüssen: etwa zehn Millionen, wovon allerdings rund ein Drittel der Unterstützung der Sicherheit dient. Darüber hinaus erhalten die etwa 365 Altkatholiken in Berlin eine Unterstützung von 10.000 Euro[8]. Die 6.000 Mitglieder des Humanistischen Verbandes[9] erhalten 580.000 Euro[10]. Wie sieht das Pro-Kopf-Verhältnis aus? Die beiden großen Kirchen erhalten rund 3 Euro pro Mitglied[11], die Altkatholiken 27 Euro, der Humanistische Verband knapp 97 Euro und die Jüdische Gemeinde 729,20 Euro. Der Beitrag für die Jüdische Gemeinde erscheint sehr hoch. Setzen wir statt der 10.000 heutigen Mitglieder die Zahl von 170.000 Juden an, die 1933 in Berlin lebten[12], aber vom deutschen Staat vertrieben oder ermordet worden sind, ergibt sich ein Betrag von knapp 43 Euro. Insgesamt ist die Politik der Staatsleistungen in Berlin wenig systematisch, auch wenn die Zahlungen wenige ausgesuchte Minderheiten stark bevorteilen – die im Vergleich zu den großen Kirchen tatsächlich strukturschwach sind.

    Nicht nur die Höhe der Staatsleistungen variiert zwischen den Ländern, sondern auch die Art und Weise, wie die Staatsleistungen zugeteilt werden. Problematisch ist aus meiner Sicht weniger, dass der Staat Zuschüsse gewährt – auch wenn ich kein Problem mit deren Abschaffung hätte – sondern dass die tradierten Leistungen an die großen Kirchen längst hätten abgelöst werden müssen. Wenn der Staat Zuschüsse gibt, muss er frei darin sein, die Höhe festzusetzen. Die Gewährung muss nach einem transparenten Schlüssel geschehen, der die Anhängerzahl berücksichtigt. Ob dabei alle Gemeinschaften den gleichen Betrag pro Kopf erhalten sollen (bayerisches Modell) oder kleine Gemeinschaften mit besonderen Bedarfen stärker gefördert werden sollen (ein sehr idealisiertes Berliner Modell), muss dabei vor Ort entschieden werden.

    Der Sonderfall der jüdischen Gemeinden muss dabei angemessen berücksichtigt werden. Gerade aufgrund der in meinen Augen notwendigerweise hohen Staatsleistungen ergeben sich schnell sehr deutliche Wettbewerbsvorteile für einzelne geförderte jüdische Gemeinschaften gegenüber anderen jüdischen Gemeinschaften, die nicht gefördert werden. Der Staat darf sich daher nicht auf einzelne Gemeinschaften festlegen, seine Förderung muss für alle offen sein. Das gilt freilich auch für alle anderen Bekenntnisgemeinschaften: Der Staat kann nicht einzelne fördern und andere nicht. Er muss neutral sein. Er darf fördern, darf aber nicht lenken. Wenn das System der Staatsleistungen erhalten bleiben soll, muss es deutlich mehr Gemeinschaften erreichen als bislang.

     


    Dr. Sven Speer ist Vorsitzender des Forums Offene Religionspolitik (FOR) seit dessen Gründung 2011. Als Mitarbeiter und im Rahmen von Vorträgen und Gutachten berät er Regierungsorganisationen, Abgeordnete, Religionsgemeinschaften und Verbände zum Verhältnis von Staat und Religion – u.a. in Berlin, Jerusalem, Beirut, Kairo, Washington D.C., Houston und Salt Lake City. Er ist darüber hinaus Co-Founder von inteero, einer Plattform für Online-Einrichtungsberatung. Speer hat Politikwissenschaft und Geschichte studiert und am Exzellenzcluster ‚Religion und Politik‘, am German Marshall Fund of the United States und am Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien zur politischen Regulierung von Religion geforscht.