Schleswig-Holstein: Verfassung mit oder ohne Gott?

    Das nördlichste deutsche Bundesland diskutiert über die Einfügung eines Gottesbezugs, einer so genannten nominatio dei, in die Präambel der Verfassung. Bislang kommt die 1949 verabschiedete Verfassung fast ganz ohne religiöse Bezüge aus. Verankert ist nur, dass der Ministerpräsident seiner Vereidigung eine religiöse Beteuerung beifügen kann und dass die öffentlichen Schulen Schüler ohne Unterschied ihres Bekenntnisses und ihrer Weltanschauung zusammenfassen. Religionspolitisch haben sich die Väter und Mütter der schleswig-holsteinischen Verfassung vollständig dem Grundgesetz gefügt. Dass es auch anders geht, zeigen die Verfassungen von Nordrhein-Westfalen und Baden-Württemberg, die ebenfalls nach dem Grundgesetz verabschiedet wurden und eine ganze Reihe eigenständiger Akzente setzen.

    In Verantwortung vor Gott und den Menschen

    Im Zuge der Reform der Verfassung soll eben dieser folgende Präambel vorangestellt werden: „Der Landtag hat in Vertretung der schleswig-holsteinischen Bürgerinnen und Bürger in Verantwortung vor Gott und den Menschen und auf der Grundlage der unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechte als Fundament jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit […] diese Verfassung beschlossen“. Gekürzt habe ich diverse Verweise auf Toleranz, Solidarität, Nachhaltigkeit usw. Schleswig-Holstein liegt damit gewissermaßen im Trend, denn das andere westdeutsche Bundesland, das nach dem Zweiten Weltkrieg ohne Präambel in der Verfassung auskam, hat sich bereits 1993 im Zuge der Verfassungsreform eine Präambel gegeben – „Im Bewusstsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen“.

    Verglichen mit den Formulierungen anderer Verfassungen wirkt dieses Satzstück harmlos: In der Präambel der Verfassung von Rheinland-Pfalz folgt dem „Im Bewusstsein der Verantwortung vor Gott“ noch ein „dem Urgrund des Rechts und Schöpfer aller menschlichen Gemeinschaft“. Und der bayerischen Verfassung geht eine Präambel voran, die von einem „Trümmerfeld[.]“ spricht, „zu dem eine Staats- und Gesellschaftsordnung ohne Gott, ohne Gewissen und ohne Achtung vor der Würde des Menschen“ geführt habe.

    Selbst einigen Verfassungen der ostdeutschen Bundesländer sind Präambeln mit Gottesbezug vorangestellt: So enthält die Präambel der Verfassung Thüringens ganz am Ende die Worte „und auch in Verantwortung vor Gott“. Die Präambel von Sachsen-Anhalt versucht etwas Neues und gibt an, die Verfassung sei gegeben worden „in Achtung der Verantwortung vor Gott und im Bewusstsein der Verantwortung vor den Menschen“. Während die konkrete Aussage unklar ist, ist klar, dass ein großer Teil der Bevölkerung beider Länder weder christlich noch religiös ist. Gleiches gilt in wachsendem Maße auch für die Bürger Schleswig-Holsteins.

    Politischen Handlungsrahmen durch unverhandelbare „überstaatliche Werte und Normen“ begrenzen

    Die Bedeutung der Präambel für die Interpretation der Verfassungen ist unklar. Die Höherrangigkeit Gottes in der Präambel beschreibt Tine Stein als ein in der Diskussion eingebrachtes Argument, um den politischen Handlungsrahmen der Menschen durch unverhandelbare „überstaatliche Werte und Normen“ zu begrenzen (Stein 2007: 292-293). Dass ein derartiger „Himmelsanker“ jedoch keine hinreichende Bedingung für ein friedliches und menschenwürdiges Miteinander ist, haben nicht zuletzt die terroristischen Anschläge vom 11. September 2001 gezeigt, die auch in Verantwortung vor Gott ausgeführt wurden.

    Bedeutung für die Auslegung von Verfassungen nicht klar

    Aber nicht nur die Aussage der Nominatio Dei ist Sache der Interpretation, auch seine Bedeutung für die Auslegung des Grundgesetzes ist nicht vollkommen klar. Stein (2001: 188-189) betont, dass die Präambel in den 1950er und 1960er Jahren „noch als rechtlich völlig unverbindlich verstanden wurde“, sie aber heutzutage für die Rechtsprechung durchaus Berücksichtigung finde. Die Berücksichtigung gehe jedoch nicht so weit, „dass nachfolgende Regelungen, insbesondere grundrechtlicher Art, durch die Präambel modifiziert werden könnten“. Der Gehalt dieser Aussage ist gering: es bleibt offen, wann die Präambel für die Rechtsprechung relevant ist, wann nicht und wie sie ausgelegt wird.

    Gerhard Czermak (2008: 88-89) hingegen warnt vor den Gefahren, die eine Berücksichtigung der Präambel nach sich ziehen würde, da sie „das im eigentlichen Verfassungstext deutlich verankerte System der Religionsverfassung ohne erkennbare Kriterien nach Belieben aufweichen“ könnte und fügt sodann an, dass die Präambel für die Rechtsprechung bisher keine Rolle gespielt habe. Zumindest die Unionsparteien weisen der Präambel aber eine besondere Bedeutung zu. Auf eine Anfrage des Humanistischen Verbandes hin bezeichneten sie u.a. den Gottesbezug in der Präambel als Bekenntnis zum „christlich-jüdische[n] Erbe und Wertefundament“ und führen weiter aus, der Staat habe daher „die verschiedenen Weltanschauungsgemeinschaften nicht indifferent gleich zu behandeln“ (Groschopp 2009: 3).

    Präambel sollte so formuliert sein, dass sich jeder darin wiederfindet

    Ich kann verstehen, dass Abgeordnete und auch Teile der Bevölkerung deutlich machen wollen, dass sie sich bei der Verfassungsgebung Höherem verpflichtet fühlen als der bloßen Tagespolitik. Zugleich sollte die Präambel möglichst so formuliert werden, dass sich jeder darin wiederfindet. Einen Vorschlag dazu hat der Bundesvorsitzende des Humanistischen Verbands Frieder Otto Wolf eingebracht: „Der Landtag hat in Vertretung der schleswig-holsteinischen Bürgerinnen und Bürger, im Bewusstsein des religiösen, philosophischen und humanistischen Erbes und auf der Grundlage der unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechte als Fundament jeder menschlichen Gemeinschaft […]“

    Das klingt deutlich weniger pathetisch (was ich als Verlust empfinde), geht aber in die richtige Richtung. Denn letztlich macht es eine Verfassung stärker, wenn sie ihre Legitimität nicht nur aus der Legalität, sondern auch aus den Werthaltungen ihrer Bürger – aller ihrer Bürger – gewinnt. Dass auch die Muslime der nominatio dei in der Verfassung zustimmen, reicht dafür nicht. Denn in Schleswig-Holstein sind etwa 40 Prozent der Bürger nicht religiös.

     Foto: Pixabay
     
    Dr. Sven Speer ist Vorsitzender des Forums Offene Religionspolitik (FOR) seit dessen Gründung 2011. Als Mitarbeiter und im Rahmen von Vorträgen und Gutachten berät er Regierungsorganisationen, Abgeordnete, Religionsgemeinschaften und Verbände zum Verhältnis von Staat und Religion – u.a. in Berlin, Jerusalem, Beirut, Kairo, Washington D.C., Houston und Salt Lake City. Er ist darüber hinaus Co-Founder von inteero, einer Plattform für Online-Einrichtungsberatung. Speer hat Politikwissenschaft und Geschichte studiert und am Exzellenzcluster ‚Religion und Politik‘, am German Marshall Fund of the United States und am Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien zur politischen Regulierung von Religion geforscht.