Die Frage nach dem Kruzifix im Klassenzimmer an einer staatlichen Schule lässt sich aus der Perspektive einer offenen Religionspolitik leicht beantworten: Der Staat muss die Religionsfreiheit des Einzelnen schützen und darf keine Religion oder Weltanschauung bevorzugen oder benachteiligen, solange sie nicht in Widerspruch zum Grundgesetz stehen. Das Kreuz ist kein bloß kulturelles Symbol, sondern ein eindeutig christliches Zeichen. Daher darf kein Landesgesetz vorschreiben, dass Kreuze in Klassenzimmern angebracht werden müssen – und selbstverständlich auch keine anderen religiösen Symbole.
Anders verhält es sich mit der Frage, ob die Menschen, die in staatlichen Institutionen arbeiten, durch Kleidung und Erscheinungsbild ihre religiöse Zugehörigkeit zum Ausdruck bringen dürfen. Konkret: Darf eine Lehrerin ein Kopftuch, eine Kette mit Kreuzanhänger, eine Ordenstracht tragen?
Nein, argumentieren viele. Ein Lehrer, eine Lehrerin müsse sich neutral kleiden, um keinen Einfluss auf die Kinder im Klassenzimmer zu nehmen. Wenn eine Lehrerin mit Kopftuch vor der Klasse steht, könnte das ihre Schülerinnen und Schüler darin beeinflussen, was sie für eine Frau für die angemessene Kleidung halten. Die Mädchen im Klassenzimmer könnten sich fragen, ob sie vielleicht auch ihre Haare bedecken sollten. Das greife aber in das Erziehungsrecht der Eltern ebenso ein wie in das Recht der Mädchen auf Selbstbestimmung. Von einer Lehrerin müsse man neutrale Kleidung verlangen.
Ich frage mich: Was soll denn neutrale Kleidung sein?
Bleiben wir beim Kopftuch-Beispiel, das immer wieder hitzige Diskussionen auslöst. Ja, es mag sein, dass eine Lehrerin, die Kopftuch trägt, zumal von muslimischen Mädchen als Vorbild empfunden wird. Dasselbe gilt jedoch auch für eine Lehrerin, die ihre Haare offen trägt. Eine Schülerin, die bislang Kopftuch getragen hat, könnte durch das bloße Erscheinungsbild einer Lehrerin, die sie mag, auf die Idee kommen, ihr Kopftuch abzulegen. So betrachtet sind offene Haare genauso wenig neutral wie ein Kopftuch; der Minirock so wenig wie eine lange Hose.
Dass eine Frau ihre Haare offen trägt, ist in Deutschland nun mal Tradition, werden viele einwenden. Ebenso ist das Kreuz, das eine Frau vielleicht als Anhänger um den Hals trägt, zumindest auch ein traditionelles Symbol, weil das Christentum Deutschland in seiner gesamten Geschichte entscheidend geprägt hat.
Das stimmt zwar, lautet meine Antwort. Eben diese Argumentation, die sich auf bloße Tradition beruft, will eine offene Religionspolitik jedoch aufbrechen. Die Realität in Deutschland hat sich gewandelt. Unser Land ist vielfältiger geworden, und das gilt auch für die Traditionen, denen wir uns verbunden fühlen. Wir können nicht länger damit argumentieren, dass die „Eingewanderten“ sich der Tradition derer, die „zuerst da waren“, anzupassen hätten. Wer in der zweiten oder dritten Generation in Deutschland lebt, gehört hierher und hat ein Recht auf Gleichbehandlung gegenüber allen anderen Deutschen. Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich – egal welcher Religion oder Weltanschauung, egal welchen Kulturen sie sich zugehörig fühlen.
Was bedeutet das nun für die Kleidung und das Aussehen von Lehrerinnen und Lehrern an staatlichen Schulen? Mein Vorschlag ist: Wir sollten die Blickrichtung ändern. Lehrer und Lehrerinnen sind in ihrer Haltung und ihrem Umgang mit Menschen immer in einem gewissen Maße Vorbilder. Wir können nun argwöhnisch darauf schielen, wer auf welche Weise seine persönliche Religiosität zum Ausdruck bringt. Wir können aber auch vielmehr die Chancen in einem bunt gemischten Lehrerkollegium sehen, das trotz aller Unterschiede eine Kultur der gegenseitigen Anerkennung und des Respekts vorlebt – untereinander ebenso wie im Umgang mit Schülerinnen und Schülern.
Ein als Institution nur dem Grundgesetz verpflichteter Raum, in dem der einzelne Mensch mitsamt seiner persönlichen Religion oder Weltanschauung wertgeschätzt wird: Das wäre die Art von Schule, die ich mir für meine eigenen Kinder wünschen würde.