Religionsunterricht: Verbreitung großkirchlicher Werte oder Wahlfreiheit?

    In fast allen Bundesländern sind Religions- und Ethikunterricht so eingerichtet, dass möglichst viele Schüler den Religionsunterricht der beiden großen Kirchen besuchen und ihnen so deren Werte näher gebracht werden. Die Wege der Bundesländer sind dabei teilweise sehr unterschiedlich, weil sie immer an die Situation vor Ort angepasst sind. Letztlich haben die Ausgestaltung der Belegpflicht und des Ethikunterrichts fast immer zur Folge, dass die beiden großen Bekenntnisse ein Maximum an Schülern erreichen. Dem müsste nicht so sein: Religionsunterricht könnte selbst als ordentliches Lehrfach mehr Raum für die Freiheit des Einzelnen lassen.

    Belegpflicht

    Mit Ausnahme von Bremen und Hamburg ist Religionsunterricht in allen westdeutschen Bundesländern und Mecklenburg-Vorpommern Pflichtfach, während staatlicher Ethikunterricht Ersatzfach ist. Das heißt, dass alle Schüler, die einem Bekenntnis angehören, das einen Religionsunterricht an der Schule anbietet (in der Regel die beiden großen Kirchen), diesen Religionsunterricht besuchen müssen. Wollen sie – und/oder ihre Eltern – dies nicht, müssen sie sich vom Religionsunterricht abmelden. Diese abgestufte Regelung stellt sicher, dass für konfessionell gebundene Schüler eine Hürde besteht, wenn sie am Religionsunterricht nicht teilnehmen wollen. In den westdeutschen Ländern mit großkirchlicher Bevölkerungsmehrheit werden die christlichen Schüler so ganz gezielt in ihren Religionsunterricht geführt.

    [pullquote_right]Im Westen werden die eigenen Schüler zum Religionsunterricht verpflichtet, während im Osten Freiheitsräume eröffnet werden, die ungebundenen Schülern den Weg in den Religionsunterricht erleichtern.[/pullquote_right]Anders sieht es hingegen in den ostdeutschen Bundesländern Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen sowie in Hamburg aus. Diese Länder haben nur wenige christliche Schüler. Die Regelung, dass der Religionsunterricht für gebundene Schüler ist und der Ethikunterricht für ungebundene, gelten hier nicht. Stattdessen sind Religionsunterricht und Ethikunterricht Alternativen in einem Wahlpflichtbereich. Dadurch wird gebundenen Schülern zwar die Alternative zum Religionsunterricht erleichtert, aber den weit zahlreicheren ungebundenen Schülern wird der Zugang zum Religionsunterricht deutlich vereinfacht. Und so kommt es, dass sich die beiden großen Kirchen damit rühmen, dass gerade in Ostdeutschland weit mehr Schüler den Religionsunterricht besuchen, als die Kirchen Mitglieder unter den Schülern haben. Im Westen werden die eigenen Schüler zum Religionsunterricht verpflichtet, während im Osten Freiheitsräume eröffnet werden, die ungebundenen Schülern den Weg in den Religionsunterricht erleichtern.

    Schlechte Ausstattung des Ethikunterrichts

    Im Gegensatz zu den üppig ausgestatteten Lehramtsstudiengängen für evangelischen und katholischen Religionsunterricht an den Universitäten ist die Ausbildung für die Lehrer des Ethikunterrichts katastrophal, wenn wir bedenken, dass er seit 1972 an Schulen durchgeführt wird. Da hilft es auch nicht, dass Religionslehrer Ethik unterrichten können – sofern sie in dem Schuljahr nicht Religion unterrichten. In vielen Bundesländern wird Ethikunterricht von Lehrern unterrichtet, die einen Aufbaustudiengang oder entsprechende Fortbildungen besucht haben. Eine systematische grundständige Hauptfachausbildung existiert in den meisten Ländern noch immer nicht. Gleichwohl sind endlich Fortschritte in diese Richtung zu erkennen. Ausführlich informiert hierzu der Bericht “Situation des Ethikunterrichts” der Kultusministerkonferenz von 2008.

    Der Ethikunterricht wird aufgrund der Erteilung durch großkirchlich gebundene Lehrkräfte häufig nicht als Alternative zum Religionsunterricht wahrgenommen. Darüber hinaus ist er didaktisch nicht annähernd so gut aufbereitet, dass er fachlich auf einer Augenhöhe mit dem Religionsunterricht stehen könnte. Dabei existieren allerdings Ausnahmen: Mein Lehrer in Philosophie (gleichwertig zu Werte und Normen bzw. Ethik) war außerordentlich engagiert, konfessionell nicht gebunden und hat einen Unterricht gegeben, der den Religionsunterricht locker in die Tasche stecken konnte. Damals war ich noch katholisch und habe mich bewusst vom Religionsunterricht abgemeldet, um an diesem Philosophieunterricht teilnehmen zu können.

    Ethikunterricht nur in den oberen Jahrgängen

    Eingeführt wurde der Ethikunterricht 1972 in Bayern, um die Abmeldungen der konfessionell gebundenen Schüler vom Religionsunterricht einzudämmen. Diese bekamen bis dato Freistunden, wenn sie Religion aus ihrer Stundentafel strichen. In den Augen der kirchlichen und politischen Verantwortlichen nutzten offenbar zu viele religionsmündige Schüler die Abmeldung vom Religionsunterricht für ein wenig mehr Freizeit. Um die Qualität des Religionsunterrichts war es damals nicht gut bestellt. Die eigentliche Trendwende für den Besuch des Religionsunterrichts kam jedoch erst mit der Einführung des Ethikunterrichts. Von nun an gab es keine Freistunde mehr für die Abmeldung vom Religionsunterricht, so dass der Großteil der konfessionell gebundenen Schüler nun weiter den Religionsunterricht besuchte. Dass der Ethikunterricht didaktisch so schwach aufgestellt ist, wundert daher nicht: Er war primär als Gegenmittel gegen die Freistunde gedacht, nicht als Erziehung.

    Aufgrund dieser Funktion wird Ethikunterricht in fast allen Ländern auch zuerst in den oberen Jahrgangsstufen eingeführt, in denen sich die Schüler selbst vom Religionsunterricht abmelden können. Eine flächendeckende Versorgung mit Ethikunterricht gibt es nicht. In vielen Ländern sind selbst konfessionslose oder andersreligiöse Eltern gut beraten, wenn sie ihre Kinder in den “ordentlichen” Unterricht für Religion schicken, da es keine “ordentliche” Alternative gibt.

    Religion und Ethik als Angebot

    Eigentlich ist es eine schöne Sache, dass sich Kinder in der Schule mit verschiedenen Religionen und Weltanschauungen aus erster Hand oder aber übergreifend auseinander setzen können. Dagegen ist meines Erachtens generell nichts einzuwenden. Die derzeitige Ausgestaltung ist aber hoch problematisch, da sie steuernd zu Gunsten der großen Kirchen eingreift. Religions-, Weltanschauungs- und Ethikunterricht müssen zu einem Angebot des Staates für Eltern und ihre Kinder werden. Um dies zu erreichen,

    • müssen Religions-, Weltanschauungs- und Ethikunterricht Teil eines Wahl- oder Wahlpflichtbereichs werden, in dem Eltern und ihre Kinder frei wählen können,
    • muss die universitäre Ausbildung für Ethiklehrer immens ausgebaut und professionalisiert werden und
    • muss Ethikunterricht in allen Schulformen und in allen Jahrgängen angeboten werden, sobald dort Religions- oder Weltanschauungsunterricht verpflichtend gegeben wird.

    Wenn diese Bedingungen erfüllt sind, dann ist Religionsunterricht als ordentliches Lehrfach nicht länger ein Instrument der Mission. Er ist ein Angebot für Eltern und Schülern, das gleichberechtigt neben Weltanschauungs- und Ethikunterricht steht.

    Dr. Sven Speer ist Vorsitzender des Forums Offene Religionspolitik (FOR) seit dessen Gründung 2011. Als Mitarbeiter und im Rahmen von Vorträgen und Gutachten berät er Regierungsorganisationen, Abgeordnete, Religionsgemeinschaften und Verbände zum Verhältnis von Staat und Religion – u.a. in Berlin, Jerusalem, Beirut, Kairo, Washington D.C., Houston und Salt Lake City. Er ist darüber hinaus Co-Founder von inteero, einer Plattform für Online-Einrichtungsberatung. Speer hat Politikwissenschaft und Geschichte studiert und am Exzellenzcluster ‚Religion und Politik‘, am German Marshall Fund of the United States und am Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien zur politischen Regulierung von Religion geforscht.