von Sven W. Speer
Anders als viele Außenpolitiker angenommen hatten, haben religiös-weltanschauliche Unterschiede im Zuge der Modernisierung weltweit keineswegs an Bedeutung verloren. Religion hat spätestens seit dem 11. September 2001 massiv an Bedeutung in der internationalen Politik gewonnen. Die Konflikte, die durch religiös-weltanschauliche Unterschiede entstehen, verlaufen jedoch keineswegs zwischen zivilisatorischen Blöcken, wie Samuel Huntington in seinem ‚Kampf der Kulturen‘ vorhergesagt hat. Die religiös-weltanschaulichen Konflikte der Zukunft werden innerhalb von Staaten ausgetragen – und dies nicht ausschließlich entlang kultureller oder ethnischer Grenzen.
Die Entkopplung von Religion und Kultur in der Moderne (Olivier Roy) führt zu einer religiös-weltanschaulichen Pluralisierung innerhalb von Kulturen. Pfingstkirchen wachsen rasant im katholisch dominierten Lateinamerika, in Afrika und Ostasien. Buddhistische Vorstellungen und Praktiken gewinnen Rückhalt in Europa und Nordamerika. Europäer konvertieren zum Islam, Araber konvertieren zum Christentum und immer mehr Menschen verstehen sich dezidiert als Atheisten. Die religiöse Weltkarte wird unübersichtlich.
Selbst liberale Gesellschaften stellt die Pluralisierung vor große Herausforderungen. In unfreien Gesellschaften werden die Konflikte weit schärfer sein, da die Staaten weit weniger als liberale Staaten in der Lage sind, religiös-weltanschauliche Vielfalt zuzulassen und anzuerkennen. Je nachdem, wie stark die neuen Minderheiten sind, wird es zu Verfolgungen, Vertreibungen oder heftigen Konflikten über die Symbole der Staaten, das Bildungswesen und die Wohlfahrtspolitik kommen.
[pullquote_right]Das Vertrauen in Religionsfreiheit kann dort besonders nachhaltig wachsen, wo Vertreter der eigenen Tradition durch ihre Erfahrungen glaubhaft machen können, dass Religionsfreiheit für jede Gemeinschaft von Vorteil ist.[/pullquote_right]Um die Konflikte zu zivilisieren, muss die Toleranz zwischen Gemeinschaften verschiedener Religionen vor Ort gefördert werden. Die Brücken zwischen verschiedenen religiösen Traditionen stellen gemeinsame Geschichte und geteilte Kultur dar. Ein ständiger Dialog ist notwendig, um den zivilisierten Umgang mit religiös-weltanschaulichen Konflikten einzuüben.
Die Annäherung vor Ort kann durch einen Erfahrungsaustausch auf internationaler Ebene erheblich unterstützt werden. Denn immer mehr Bekenntnisgemeinschaften weltweit haben Erfahrungen mit Religionsfreiheit in Nordamerika und Europa. Dies gilt für alle Gemeinschaften, die aus westlichen Staaten heraus missionieren (Evangelikale, Pfingstler, Mormonen), und für alle Gemeinschaften, die große Diasporagemeinden in westlichen Staaten haben (Muslime, Baha’i, Orthodoxe).
Den Erfahrungsaustausch zwischen Gemeinschaften gleicher und ähnlicher Tradition gilt es im Weltmaßstab auszuweiten, über alle kulturellen und staatlichen Grenzen hinweg. Das Vertrauen in Religionsfreiheit kann dort besonders nachhaltig wachsen, wo Vertreter der eigenen Tradition durch ihre Erfahrungen glaubhaft machen können, dass Religionsfreiheit für jede Gemeinschaft von Vorteil ist.
Gerade das Beispiel der USA zeigt die Überzeugungskraft eines Systems der Religionsfreiheit für die Anhänger aller Religionen und keiner Religion. Hier sind die Freiheit von religiösem Zwang und die Freiheit freier religiöser Praxis länger erprobt worden als irgendwo sonst in der Welt. Und alle Gemeinschaften unterstützen den Grundsatz der Religionsfreiheit. So haben die Erfahrungen der nordamerikanischen Katholiken maßgeblich dazu beigetragen, dass sich die katholische Kirche beim Zweiten Vatikanischen Konzil für Religionsfreiheit ausgesprochen hat. Einen ähnlichen internationalen Erfahrungsaustausch sollten wir auch in anderen Traditionen unterstützen, damit sich mehr Gemeinschaften vor Ort auf das Wagnis religiöser und weltanschaulicher Freiheit einlassen.