Religion in der Schulpolitik

    Historische Entwicklung

    Im Verlauf der Geschichte musste sich die Religion aus den Schulen auf dem Gebiet der späteren Bundesrepublik immer weiter zurückziehen. Die ersten Schulen des Mittelalters waren Klosterschulen. Im Laufe der Zeit kamen Domschulen, Pfarrschulen und städtische Schulen hinzu, die allerdings allesamt unter kirchlicher Aufsicht standen und in erster Linie Religion vermittelten. Erst seit der Aufklärung (17./18. Jahrhundert) stärkten weltliche Herrscher die Bedeutung nichtreligiöser Fächer, ohne jedoch die kirchliche Schulaufsicht zu beenden. Die Aufsicht der Kirchen über die Schule wurde erst 1918 beendet, gemeinsam mit der deutschen Monarchie (Kuhn-Zuber 2006: 7-20).

    Schulpflicht

    Für die Religionspolitik bietet die Schule große Potentiale, da jedes Kind in Deutschland zum Schulbesuch verpflichtet ist. Keine andere staatliche Institution wirkt einen derartigen Zwang aus und nimmt dabei zugleich so viel Zeit in Anspruch: Die Schulpflicht erstreckt sich über neun bis zehn Jahre, in denen die Schüler außerhalb der Ferienzeiten mindestens jeden Vormittag von Montag bis Freitag in der Schule verbringen. Eine derartige Verfügungsgewalt ist in Deutschland derzeit nur in der Schule gegeben. Die Expansion der Schulpflicht auf einen immer größeren Zeitraum hat die Zeit eingeschränkt, die der Familie für die Sozialisation ihrer Kinder potentiell zur Verfügung stand. Die Erziehung in der Schule kann vom Staat deutlich einfacher gestaltet werden als die Erziehung in den Familien. In der Schule können Kinder mit religiösen und weltanschaulichen Ansichten in Berührung kommen, die ihnen in ihrem familiären Umfeld unbekannt sind.

    Bildungs- und Erziehungsauftrag

    Die Schule als Institution hat nicht nur Zwangsgewalt über die Schüler, sondern zugleich auch den Auftrag von Bildung und Erziehung. In den aktuellen Debatten nach den internationalen Schulleitungsuntersuchungen PISA und TIMMS scheint der Bildungsauftrag der Schule zu dominieren und damit die Kompetenzvermittlung für das Berufsleben. Für die Religionspolitik wichtiger ist die Rolle der Schule in der Erziehung. Ein Ziel der Schulbildung ist, „dass heranwachsende Menschen in ihrer Kultur keine Fremden bleiben“ (Fend 2008: 48). Die Schule trägt wesentlich dazu bei, dass Schüler an ihrer kulturellen Umwelt teilhaben können, zugleich reproduziert sie die Kultur jedoch, indem sie diese den Schülern weitervermittelt (Fend 2008: 49-51). Für die Bildung und die Erziehung steht der Schule eine Vielzahl von Mitteln zur Verfügung, mit deren Erforschung und Weiterentwicklung die Pädagogik und Didaktik und damit ganze Zweige von Wissenschaften beschäftigt sind. Auch religiös-weltanschauliche Werte und daraus resultierende Bindungen werden in der Schule didaktisiert und damit erfolgreicher vermittelt.

    Religion(sgemeinschaften) und Schule

    Auch nach der Verstaatlichung ist die Schule in Deutschland nicht frei von Religion. Fischer nennt mit der Bekenntnisschule und dem Religionsunterricht die „beiden Einbruchsstellen der Religionsgesellschaften in die Staatsschule“ (Fischer 1964: 235). Eine zusätzliche Ausbruchsstelle ist zudem die Errichtung privater Schulen mit religiöser oder weltanschaulicher Bindung. Diese drei Möglichkeiten werden von den Bundesländern in unterschiedlicher Weise genutzt: Sie können ihre staatlichen Schulen generell religiös-weltanschaulich ausrichten, ein wertevermittelndes Fach (oder mehrere) an den staatlichen Schulen anbieten oder die Einrichtung und Unterhaltung privater Schulen mit religiös-weltanschaulicher Ausrichtung unterschiedlich stark fördern. Eine direkte Mitwirkungsmöglichkeit für Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften ist im bekenntnisgebundenen Unterricht und bei der Errichtung privater Schulen gegeben (Nordhofen/Bucher 2005: 43), während der Einfluss bei der generellen Ausrichtung der Regelschule indirekter Art ist. Für alle drei religionspolitischen Möglichkeiten im Bereich der Schule existieren allerdings Schranken im Grundgesetz, so dass der Handlungsspielraum der Bundesländer begrenzt ist.

    Konflikte um Schule und Religion

    Die vielfältigen religionspolitischen Auseinandersetzungen im Bereich der Schule vom Kruzifixstreit über das Kopftuchverbot bis hin zu Fragen des Religions- und Werteunterrichts (Islam, Ethik, Lebensgestaltung Ethik Religionskund (LER), Hamburger Modell) vermitteln den Eindruck, dass die Schulpolitik in Deutschland eine neue Phase der ideologischen Auseinandersetzungen durchläuft – ähnlich wie dies zu Beginn der Bundesrepublik bezüglich der Konfessionsschule und von 1974 bis 1987 bezüglich der Gesamtschule der Fall war (Thränhardt 1990: 187, 198-199).

    Literatur

    Kuhn-Zuber, Gabriele (2006): Die Werteerziehung in der öffentlichen Schule. Religions- und Ethikunterricht im säkularen Staat, Hamburg.
    Fend, Helmut (2008): Neue Theorien der Schule. Einführung in das Verstehen von Bildungssystemen, Wiesbaden.
    Fischer, Erwin (1964): Trennung von Staat und Kirche. Die Gefährdung der Religionsfreiheit in der Bundesrepublik, München.
    Nordhofen, Eckart/Bucher, Anton A. (2005): Deutschland, in: Ballestrem, Karl u.a.: Kirche und Erziehung in Europa, Wiesbaden.
    Thränhardt, Dietrich (1990): Bildungspolitik, in: Beyme, Klaus von/Schmidt, Manfred G.: Politik in der Bundesrepublik Deutschland, Opladen.

    Dr. Sven Speer ist Vorsitzender des Forums Offene Religionspolitik (FOR) seit dessen Gründung 2011. Als Mitarbeiter und im Rahmen von Vorträgen und Gutachten berät er Regierungsorganisationen, Abgeordnete, Religionsgemeinschaften und Verbände zum Verhältnis von Staat und Religion – u.a. in Berlin, Jerusalem, Beirut, Kairo, Washington D.C., Houston und Salt Lake City. Er ist darüber hinaus Co-Founder von inteero, einer Plattform für Online-Einrichtungsberatung. Speer hat Politikwissenschaft und Geschichte studiert und am Exzellenzcluster ‚Religion und Politik‘, am German Marshall Fund of the United States und am Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien zur politischen Regulierung von Religion geforscht.