Gesellschaftliche Vielfalt wird in vielen europäischen Staaten als bedrohlich empfunden – in besonderer Weise gilt dies für religiöse Vielfalt. Der religiöse (oder nichtreligiöse) Abweichler untergrabe den Konsens der Gesellschaft und schwäche sie dadurch. Die Realität sieht anders aus: Obwohl Vielfalt Konflikte verursacht, war und ist sie der Motor des europäischen Wohlstands. Gerade in Zeiten, in denen Nichtreligiöse benachteiligt werden, Muslime von Staats wegen „integriert“ werden und Angehörige religiöser Minderheiten ihr Bekenntnis verschweigen, muss daran erinnert werden.
Das „Ausmaß der Exzentrizität in einer Gesellschaft stand immer im genauen Verhältnis zu dem Potential von Genie, Geisteskraft und sittlichem Mut“, konstatierte John Stuart Mill bereits 1859 in seiner kurzen, aber höchst bedeutsamen Schrift Über die Freiheit (On Liberty). Die Ökonomen Quamrul Ashraf und Oded Galor geben ihm zumindest für die Zeit ab der Industrialisierung Recht. In ihrer Studie Cultural Diversity, Geographical Isolation and the Origin of the Wealth of Nations zeigen sie auf, dass Gesellschaften vor der Industrialisierung durchaus von Isolation und kultureller Uniformität profitiert haben. Die vielfältigen Gesellschaften haben die anderen jedoch rasch technologisch und dann wirtschaftlich überholt.
Hugenotten brachten im späten 17. Jahrhundert neue Technologien und neues Denken nach Brandenburg-Preußen und trugen maßgeblich zur Entwicklung des Landes – und ganz Deutschlands – bei. Bis ins 19. Jahrhundert wurden die Flüchtlinge auch tatsächlich als Flüchtlinge (Réfugiés) bezeichnet. Heutzutage haben Flüchtlinge kein so hohes Ansehen. Die Emanzipation der Juden setzte einen enormen Innovationsschub frei, als vormals ausgegrenzte Menschen ihre Potenziale und Sichtweisen einbringen konnten. Atheisten, Agnostiker und Humanisten haben über Jahrhunderte herrschende Denkweisen in Frage gestellt und so als schöpferische Kraft gewirkt.
Das Land der Vielfalt sind jedoch zweifellos die USA. Unter den Einwanderern, die in Amerika ihren Traum der Freiheit verwirklichten wollten, waren neben Glücksrittern auch viele verfolgte oder ausgegrenzte religiöse Minderheiten. Gestartet sind die USA als Nation religiöser Flüchtlinge, heute sind sie die einzig verbliebene Weltmacht. Aber auch die USA waren nicht immer das Land of the Free. Von Milizen verfolgt mussten Mormonen bis nach Utah fliehen. Die Kolonie der Verfolgten ist heute aufgrund globaler Vernetzung und über hundert gesprochenen Sprachen eine der wirtschaftlichen Wachstumsregionen der USA.
Seitdem die WASP (White Anglo-Saxon Protestants) nicht mehr die Mehrheit der Amerikaner stellen, ist dort jeder Angehöriger einer Minderheit. Kalifornien ist nicht nur Heimat aller etablierten Religionen der Welt und vieler neuer, sondern auch eine der innovativsten Regionen weltweit. Nicht nur die Filmindustrie, auch die Software- und Computerindustrie machen den Bundesstaat zu einer florierenden Region. Verglichen mit den Staaten der Welt kommt Kalifornien auf Platz 8 der größten Volkswirtschaften und liegt vor Russland, Indien, Kanada, Australien und Spanien.
Auch wenn Vielfalt im Alltag störend sein kann, sollten wir uns darüber im Klaren sein, dass unser Wohlstand die Vielfalt unserer Gesellschaften voraussetzt. Das Exzentrische ist, was zu Innovationen führt. Verschließen wir uns dagegen und grenzen Minderheiten aus – ganz gleich welche – schaden wir uns selbst in der langen Frist.