von Sven W. Speer
Häufig höre ich den Vorwurf, eine offene Religionspolitik sei utopisch und unrealistisch. Die einzelnen religiösen und weltanschaulichen Gemeinschaften würden niemals auf einen gemeinsamen Nenner kommen. Die Unterschiede zwischen ihnen seien schlicht unüberbrückbar: Etliche Religiöse halten Menschen ohne Gottesglauben für unmoralisch, viele Christen und Atheisten halten den Koran für gewaltverherrlichend und Mitgliedern kleinerer Gemeinschaften wie Jehovas Zeugen wird häufig schlichtweg der Verstand abgesprochen.
Der Eindruck unüberbrückbarer Unterschiede trifft zu. Die Suche nach den ganz großen Gemeinsamkeiten ist in der Tat wenig vielversprechend. Es gibt sie (den Schutz des Lebens beispielsweise), aber sie reichen bei Weitem nicht aus, um daraus eine allumfassende Ordnung einer gemeinsamen Gesellschaft abzuleiten. Nur: Um eine allumfassende Ordnung geht es auch gar nicht.
Eine allumfassende Ordnung, die für alle akzeptabel ist, könnte es nur geben, wenn eine weitgehende Einigkeit zwischen allen Menschen bestünde. Menschen aber unterscheiden sich voneinander. Sie haben unterschiedliche Interessen und Werte. Diese konkurrieren nicht nur miteinander. Sie lassen sich vielfach gar nicht miteinander in Einklang bringen. Gesellschaften sind immer auch von Konflikten geprägt. Wer dennoch vorgibt zu wissen, was im Sinne aller ist (volonté générale), täuscht sich selbst oder belügt andere ganz bewusst.
[pullquote_right]Nur dort, wo Freiheit und Wohl anderer Menschen direkt bedroht sind, darf der Staat handeln; er muss es sogar.[/pullquote_right] Ganz gleich, wie edel die Motive sein mögen: Der Staat hat kein Recht, die Menschen zu vermeintlich förderlichen Verhaltensänderungen zu zwingen. Vielmehr sind Staat (und Gesellschaft) gezwungen, abweichendes Verhalten zu erdulden – auch wenn dies nicht leicht fällt und häufig genug schmerzt. Wenn unser Verhalten nicht mehr anstößig sein darf, sind wir nicht mehr souverän, sondern unterworfen. Daher muss der Ausdruck der eigenen Persönlichkeit grundsätzlich Vorrang haben vor den Verzichtsforderungen anderer. Nur dort, wo Freiheit und Wohl anderer Menschen direkt bedroht sind, darf der Staat handeln; er muss es sogar. Zwangsheiraten und Beschneidungen von Mädchen gehören genauso dazu wie finanzielle Ausbeutung einer abhängigen Anhängerschaft und verfassungsfeindliche Handlungen.
Der Staat darf aber nur dort eingreifen, wo es absolut notwendig ist. Anderssein zu ertragen heißt, dass die Muslima ihr Kopftuch tragen, der katholische Geistliche gegen die Homoehe wettern und der Zeuge Jehovas die lebensrettende Bluttransfusion verweigern darf. Über all das werden sich Menschen empören. Und es ist ihr gutes Recht. Auch ich mache davon Gebrauch. Aber all das rechtfertigt keine staatlichen Eingriffe. Wenn wir zulassen, dass der Staat die freie Selbstentfaltung derjenigen einschränkt, die wir für verbohrt, verstört oder gefährlich halten, dann gestehen wir ihnen das Recht zu, auch unsere Freiheit zu beschneiden, sobald sich die Mehrheiten ändern. Egal ob wir Atheisten, Christen, Muslime, Juden oder sonst etwas sind, eines muss uns in unserer Verschiedenheit klar sein: Je stärker wir die Rechte der anderen beschneiden, sich selbst auszudrücken, desto stärker entziehen wir uns selbst das Recht, anders zu sein. Offenheit ist schmerzhaft, aber eine notwendige Zumutung jeder freien Gesellschaft.