In Niedersachsen dürfen Schülerinnen im Unterricht seit August dieses Jahres keinen Gesichtsschleier mehr tragen (Gesetz zur Verankerung von Pflichten von Schülerinnen und Schülern im Niedersächsischen Schulgesetz 2017). Eine entsprechende Änderung des niedersächsischen Schulgesetzes hat der Landtag einstimmig beschlossen. Faktisch wird sich dadurch an niedersächsischen Schulen wenig ändern, denn bislang haben nur äußerst wenige Schülerinnen einen Gesichtsschleier getragen. Laut Presseberichten sind der Schulbehörde insgesamt fünf solcher Schülerinnen in Niedersachsen bekannt (Spiegel Online 2016).   

Gesichtsverschleierungsverbote in Deutschland

Niedersachsen ist damit zwar das erste Bundesland, das ein Gesichtsschleierverbot für Schülerinnen beschlossen hat, allerdings hat auch der Bund in diesem Jahr ein gesetzliches Verschleierungsverbot für Bundesbeamtinnen und Soldatinnen festgelegt (BGBl Teil I 2017: 1570). Ebenso ist seit Juli bayerischen Beamtinnen gesetzlich verboten, ihr Gesicht zu verschleiern (Bayerischer Landtag, 2017). Zudem macht sich seit Oktober ordnungswidrig, wer im Kraftfahrzeug sein Gesicht so verhüllt oder verdeckt, „dass er nicht mehr erkennbar ist.“( § 23 Absatz 4 Straßenverkehrsordnung).

Insgesamt wird in Deutschland jedoch eher die Auffassung vertreten, dass es verfassungswidrig ist, für den gesamten öffentlichen Raum das Tragen des Gesichtsschleiers zu verbieten. Zu dieser Einschätzung kommt auch der wissenschaftliche Dienst des Bundestages (Wissenschaftliche Dienste des Bundestages 2014). In Belgien, Frankreich und Österreich ist Frauen dagegen im gesamten öffentlichen Raum das Tragen eines Gesichtsschleiers untersagt. In Österreich ist ein solches Verbot in diesem Oktober in Kraft getreten. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat sich mit den Regelungen in Frankreich und Belgien auseinandergesetzt und entschieden, dass das Verschleierungsverbot im öffentlichen Raum nicht gegen die Europäische Menschenrechtskonvention verstößt (vgl. EGMR 2014).

Das niedersächsische Schleierverbot wurde vom Gesetzgeber maßgeblich damit begründet, dass Kommunikation „mit offenem Antlitz“ erfolgen müsse. In der Schule sei eine ständige Rückkopplung zwischen Lehrer*innen und Schüler*innen erforderlich. Die Schüler*innen seien deshalb verpflichtet, sich so zu verhalten und zu kleiden, dass ein solcher wechselseitiger Erziehungsprozess gelingt (vgl. Wißmann 2017).

Gesichtsschleierverbot in Schulen ist rechtlich unzulässig

Zwar teile ich persönlich den Wunsch danach, denjenigen, mit denen ich spreche, ins Gesicht blicken zu können. Zudem macht mir die dunkle Ganzkörperverschleierung etwas Angst. Dennoch scheint es mir nicht möglich, eine Pflicht zur „Kommunikation mit offenem Antlitz“ in der Schule aus dem Grundgesetz herzuleiten. Ihr steht die Religionsfreiheit aus Artikel 4 Grundgesetz entgegen. Die Religionsfreiheit kann zwar beschränkt werden – so müssen zum Beispiel Frauen mit Ganzkörperschleier bei Sicherheitskontrollen selbstverständlich ihr Gesicht zu erkennen geben – für die Schule ist aber kein Verfassungswert erkennbar, der rechtfertigt, dass eine Schülerin ihren Schleier abnehmen muss. Der staatliche Erziehungs- und Bildungsauftrag aus Artikel 7 Absatz 1 Grundgesetz begründet eine Anwesenheitspflicht der Schüler*innen, ohne dass sie dadurch zugleich zu aktiver Kommunikation und zur Teilnahme am Schulgeschehen verpflichtet werden könnten. Dieser Einwand wurde von den Fraktionen des niedersächsischen Landtags jedoch nicht berücksichtigt.

Nach dem neuen § 58 Niedersächsischen Schulgesetzes dürfen Schüler*innen „durch ihr Verhalten oder ihre Kleidung die Kommunikation mit den Beteiligten des Schullebens nicht in besonderer Weise erschweren“. Gegen diese Formulierung ist allerdings einzuwenden, dass Schüler*innen zu jeder Zeit und aus den unterschiedlichsten Gründen die Mitarbeit im Unterricht verweigern. Das geht so lange gut, wie sie ausreichend gute Klausuren schreiben.

Religionsfreiheit erfordert Toleranz

Dass nun gerade die wenigen Schülerinnen mit Gesichtsschleier Anlass für eine Änderung des Schulgesetzes sind, konterkariert Bemühungen um eine stärkere Akzeptanz der hier lebenden Muslim*innen. Es entspricht der religiös-weltanschaulichen Offenheit des Grundgesetzes, dass wir lernen, den Anblick verhüllter Frauen auszuhalten. Ebenso müssen auch muslimische Schülerinnen im gemischtgeschlechtlichen Schwimmunterricht den Anblick von spärlich bekleideten Mitschülern ertragen, weil sie selbst, aufgrund der Möglichkeit einen Burkini zu tragen, zur Teilnahme verpflichtet sind (vgl.BVerfG 2016).

Mit Blick auf den Erziehungs- und Bildungsauftrag des Staates sowie auf den Verfassungsauftrag zur Durchsetzung der Geschlechtergleichberechtigung scheint es mir wichtig zu überlegen, mit welcher Konsequenz das Gesichtsschleierverbot für Schülerinnen durchgesetzt werden soll. Soll tatsächlich eine Schülerin, die sich weigert, den Gesichtsschleier abzunehmen, trotz Schulpflicht von allen öffentlichen Schulen ausgesperrt werden? Oder soll dieser Schülerin in Durchsetzung der Schulpflicht des neuen Verschleierungsverbots der Schleier mit Gewalt abgezogen werden?

Plädoyer

Ich meine: Nein. Geboten erscheint mir vielmehr, dass sich die Schule zwar grundsätzlich bemühen soll und darf, eine Schülerin dazu zu bewegen, ihren Gesichtsschleier abzulegen. Wenn ein solches Bemühen nicht zum Erfolg führt, sollte die Schule den Schleier jedoch hinnehmen. So ähnlich hat sich wohl auch die Oberschule in Belm, Niedersachsen, verhalten, an der eine Schülerin einen Gesichtsschleier trägt. Laut Presseberichten hat die Schule den Nikab zunächst toleriert, „auch um der Schülerin den Schulabschluss zu ermöglichen, und weil es in diesem konkreten Einzelfall bisher zu keinen Störungen des Schulfriedens gekommen ist“ (Spiegel Online 2016). Erst nach drei Jahren hat die Schulleitung die Schulbehörde wegen des Falls kontaktiert. Möglicherweise wurde sie dazu durch eine Entscheidung des Verwaltungsgerichts Osnabrück vom August 2016 angeregt. Das Gericht hatte entschieden,  dass ein Abendgymnasium eine Schleier tragende Frau abweisen durfte (vgl. VG Osnabrück 2016).
Die Religionsfreiheit der anderen auszuhalten ist immer wieder eine Herausforderung, die anzunehmen, jedoch unsere demokratische, liberale und säkulare Gesellschaft gebietet.

 

Literatur:

Bayerischer Landtag, Drucksache 17/17603.

BGBl Teil I 2017, Nr. 36, 14.06.2017. Auf: https://www.bgbl.de/xaver/bgbl/start.xav?start=%2F%2F*%5B%40attr_id%3D%27bgbl117s1570.pdf%27%5D#__bgbl__%2F%2F*%5B%40attr_id%3D%27bgbl117s1570.pdf%27%5D__1510992770604. Stand: 18.11.2017.

BVerfG:  1 BvR 3237/13 – Rn. 31, 8.11.2016.

EGMR 1. 7. 2014 (GK), 43835/11, S.A.S./Frankreich. Urt. v. 11.07.2017, Az. 37798/13, Belcacemi et Oussar.

Gesetz zur Verankerung von Pflichten von Schülerinnen und Schülern im Niedersächsischen Schulgesetz vom 16.8.2017, Nds GVBL Nr. 15/2017.

Spiegel Online vom 30.09. 2016. Auf: http://www.spiegel.de/lebenundlernen/schule/belm-was-tun-wenn-eine-schuelerinden-nikab-traegt-a-1114723.html. Stand: 18.11.2017.

VG Osnabrück: AZ.: 1 B 81/16,  22. August 2016.

Wissenschaftliche Dienste des Bundestages: WD 3 – 3000 – 302/14, 1. Juli 2014 – Az.: 43835/11.

Wißmann, Hinnerk: Verfassungsrechtliche Gutachten zum Verbot gesichtsbedeckender Verschleierung in der Schule, o.O. 2017

Prof. Dr. Kirstin Wiese ist Juristin. Sie promovierte 2008 mit einer Arbeit zur Zulässigkeit eines muslimisch motivierten Kopftuches im öffentlichen Dienst. Sie lehrt gegenwärtig an der Hochschule für öffentliches Recht in Bremen und ist Mitglied im Bundesvorstand der Humanistischen Union.