Legalität der Beschneidung darf kein Sieg der Religion über Nichtreligion sein

    Wenn die Beschneidung von Jungen aus religiösen Gründen in Deutschland weiterhin legal bleibt, darf das kein Sieg der Religion über Nichtreligion sein. Es muss ein Sieg der Freiheit sein.

    Der Konflikt um die Beschneidung ist derzeit vor allem ein Konflikt zwischen Religiösen und Säkularen. Die angeführten Argumente zeigen dabei deutlich, dass nicht nur religiöse Menschen für Werte eintreten, sondern auch die nichtreligiösen – und zwar weder minder vehement noch weniger berechtigt. Wir leben in Zeiten, in denen die Grundüberzeugungen der Menschen nicht ähnlicher werden, sondern vielfältiger. Die vielfältigen Werte unserer Gesellschaft lassen sich nicht einfach hierarchisieren. Viele, die sich lauthals in die Beschneidungsdiskussion einbringen, meinen, dass die Werte in unserer Gesellschaft (oder zumindest des Grundgesetzes) einfach in Einklang zu bringen wären. Das Gegenteil ist der Fall. Das wird bereits dadurch deutlich, dass die Debatte so erbittert geführt wird. Die Ursache dafür ist nicht, dass die Menschen zu beschränkt wären, sondern dass sich viele Werte unserer Gesellschaft schlicht widersprechen und nicht zu vereinbaren sind.

    [pullquote_right]Die Freiheitsrechte, die Religiösen zugesprochen werden, müssen auch Nichtreligiösen eingeräumt werden.[/pullquote_right]Mir scheint, dass manch ein Religiöser dieser Tage die Widersprüche in den Werten unserer Gesellschaft dadurch auflösen möchte, dass die positive Religionsfreiheit als oberster Wert gesetzt wird. An diesem Punkt mahne ich entschieden zur Vorsicht. Auch wenn die Knabenbeschneidung legal bleibt, darf dies kein Freifahrtschein für Religion sein. Die Freiheitsrechte, die Religiösen zugesprochen werden, müssen auch Nichtreligiösen eingeräumt werden. Mit dem deutschen Güterpaar aus positiver und negativer Religionsfreiheit ist dies nur schwer begrifflich zu fassen. Kurz gesagt ist ‚positive Religionsfreiheit‘ die Freiheit, eine Religion auszuüben, während ‚negative Religionsfreiheit‘ die Freiheit ist, von Religion verschont zu werden. Beide Freiheiten verhalten sich zueinander wie in einem Nullsummenspiel: Was den Religiösen gegeben wird, wird den Nichtreligiösen genommen und umgekehrt.

    In Deutschland werden allzu häufig die Freiheit zur Religion und die Freiheit von Religion gegeneinander ausgespielt, worunter die Freiheit insgesamt leidet. In den USA ist die Diskussion in solchen Fragen deutlich weiter. Der Ausgangspunkt in den USA ist nicht das janusköpfige Konzept der positiven und negativen Religionsfreiheit, sondern free exercise, also die freie Ausübung der religiösen und weltanschaulichen Überzeugungen. Nach diesem Konzept haben Religiöse wie Nichtreligiöse gleichermaßen das Recht, ihr Leben nach ihren Vorstellungen zu gestalten. Im Idealfall wird weder das Religiöse, noch das Nichtreligiöse aus dem öffentlichen Leben heraus gedrängt. Alle sind dadurch gezwungen, die Lebensweisen der jeweils anderen zu tolerieren – auch wenn ihnen das missfallen mag.

    Die drei Freiheitskonzepte möchte ich am Beispiel des Sonntags skizzieren. Wird die positive Religionsfreiheit zum höchsten Gut, gibt es am Sonntag ein Arbeitsverbot, um den Menschen den Gottesdienstbesuch zu ermöglichen. Von den Kirchtürmen läuten die Glocken, auch wenn all jene, die lieber ausschlafen würden, darunter leiden. Wird die negative Religionsfreiheit zum höchsten Gut, gibt es kein Arbeitsverbot am Sonntag, schließlich ist der Sonntag ein christlicher Feiertag. Und auch Glocken läuten nicht, um niemanden mit religiöser Praxis zu belästigen. Wird die freie Ausübung der religiösen und weltanschaulichen Überzeugungen als höchstes Gut betrachtet, ergibt sich ein anderes Bild: Es steht allen Menschen am Sonntag frei zu arbeiten oder nicht zu arbeiten, damit jeder nach seinen Überzeugungen sein eigenes Leben – nicht das der anderen – gestalten kann. Die Glocken der Kirchen läuten, da jeder seine religiöse und weltanschauliche Praxis auch in die Öffentlichkeit tragen kann.

    Die freie Ausübung der religiösen und nichtreligiösen Überzeugungen kann die Klammer für eine Gesellschaft sein, die immer weniger Werte teilt. Die Menschen müssen sich nicht einig darin werden, wie ein gutes Leben geführt wird. Viel wäre aber gewonnen, wenn sie sich darauf einigten, dass jeder sein Leben nach seinen eigenen Auffassungen gestalten kann. Die Konflikte um Werte in der Gesellschaft werden dadurch nicht verschwinden. Aber gerade die Beharrungskraft von Wertkonflikten zeigt, wie nötig eine freiheitliche, eine offene Ordnung ist. Streiten wir also nicht für oder gegen Religion, sondern für die Freiheit aller.

    Dr. Sven Speer ist Vorsitzender des Forums Offene Religionspolitik (FOR) seit dessen Gründung 2011. Als Mitarbeiter und im Rahmen von Vorträgen und Gutachten berät er Regierungsorganisationen, Abgeordnete, Religionsgemeinschaften und Verbände zum Verhältnis von Staat und Religion – u.a. in Berlin, Jerusalem, Beirut, Kairo, Washington D.C., Houston und Salt Lake City. Er ist darüber hinaus Co-Founder von inteero, einer Plattform für Online-Einrichtungsberatung. Speer hat Politikwissenschaft und Geschichte studiert und am Exzellenzcluster ‚Religion und Politik‘, am German Marshall Fund of the United States und am Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien zur politischen Regulierung von Religion geforscht.