Kirchliches Engagement und feindliche Übernahme durch den Staat

    Die großen Kirchen erscheinen heute vielen als Trittbrettfahrer des Staates: Der Staat bildet Lehrkräfte und Priester aus, finanziert den Religionsunterricht an staatlichen Schulen aus und finanziert gemeinsam mit den gesetzlichen Versicherungen große Teile von Caritas und Diakonie. Die Liste ließe sich fortsetzen. Es scheint, als hätten es sich die Kirchen im Staat bequem gemacht. Tatsächlich ist aber genau das Gegenteil der Fall: Der Staat reklamiert immer mehr für sich, was die Kirchen aufgebaut haben.

    Der Staat reklamiert immer mehr für sich, was die Kirchen aufgebaut haben

    Die ersten Universitäten Europas im heutigen Sinne waren kirchliche Einrichtungen. Paris, Bologna, Oxford und Cambridge entstanden bereits im oder am Ende des 12. Jahrhunderts. Anders als in chinesischen Akademien zur Ausbildung von Staatsbeamten, den Mandarinen, waren die kirchlichen Universitäten keine Orte der bloßen Reproduktion des Überlieferten. Sie waren auch keine Orte des reinen Gebets und des Rückzugs aus der Welt. Ganz im Gegenteil: Die Theologie an den Universitäten war so spekulativ, dass sie zur treibenden Kraft bei der Entstehung der Wissenschaften wurde. Trotz des Absolutheitsanspruches der Kirche entwickelte sich an ihren Universitäten eine Freiheit, die es erst ermöglichte, dem Anspruch der Kirche zu trotzen. Martin Luther, Johannes Calvin, Galileo Galilei und Giordano Bruno waren allesamt Abgänger kirchlicher Universitäten. Über die Jahrhunderte hinweg hat die Kirche – bzw. später im Plural: haben die Kirchen – ihren Einfluss an den Universitäten verloren. Was die Kirche aufgebaut hat, hat der Staat fast vollständig übernommen. Heute kritisieren nun einige, dass bekenntnisgebundene Theologie überhaupt an staatlichen Universitäten gelehrt wird. Und sie werten dies als einen Eingriff in die Freiheit. Sie übersehen dabei, dass umgekehrt der expandierende Staat den Kirchen an den Universitäten die Freiheit genommen hat.

    Früher als der Staat nahmen sich katholische Kirche und evangelischen Landeskirchen der sozialen Frage an und stritten für die Rechte der Arbeitnehmer in der sich industrialisierenden Gesellschaft (gleiches gilt freilich für die Sozialdemokratie). Beide Kirchen gründeten im 19. Jahrhundert Krankenhäuser und zahlreiche Vereine der Armenfürsorge. Von der Wiege bis zur Bahre entwickelten sich vor allem katholische Vereine, in denen Katholiken jenseits des protestantisch dominierten Staates Verantwortung für sich und andere übernahmen. Dieses Engagement wurde in der Weimarer Zeit politisch anerkannt – was naturgemäß auch daran lag, dass nun die SPD und das katholische Zentrum gemeinsam regierten. Die staatliche Fürsorge aus dem Kaiserreich wandelte sich nun zu einem sich entwickelnden modernen Wohlfahrtsstaat. Davon profitierten auch die kirchlichen Einrichtungen.

    Deutlich ausgebaut wurde die staatliche Unterstützung für die freien Träger dann zu Beginn der Bundesrepublik, als Subsidiarität zu einem Leitmotiv der sozialen Marktwirtschaft wurde

    Deutlich ausgebaut wurde die staatliche Unterstützung für die freien Träger dann zu Beginn der Bundesrepublik, als Subsidiarität zu einem Leitmotiv der sozialen Marktwirtschaft wurde. Was vor Ort und von freien Trägern erledigt werden kann, soll nicht vom Staat und den Kommunen verantwortet werden. Doch wo Geld fließt, entstehen auch Begehrlichkeiten. Wo der Staat zahlt, da will er auch bestimmen. Gemäß dieser Maxime hat die Politik der kirchlichen Wohlfahrt immer neue Vorgaben gemacht. Die Wertvorstellungen der Kirchen sollen in den von der Allgemeinheit mitfinanzierten Einrichtungen keine Geltung mehr haben dürfen, wenn sie den politischen Vorstellungen widersprechen – das fordern einige. Das kommt aber faktisch einer feindlichen Übernahme dar.

    Was für Universitäten und Krankenhäuser gilt, gilt in ähnlicher Weise für Seniorenheime, Kindergärten, Schulen, Armenfürsorge und vieles weitere: Die Kirchen haben sie initiiert, aufgebaut und unterhalten. Als sich ihre Angebote als bewährt erwiesen haben, hat der Staat sie finanziell immer stärker unterstützt. Damit wuchsen jedoch die Begehrlichkeiten, so dass der Staat die Freiheit der Kirchen in ihren eigenen Einrichtungen nach und nach beschnitten hat – wenn er die Einrichtungen nicht gleich ganz übernommen hat. Eine solche Politik widerspricht einer Offenen Religionspolitik vollständig. Der Staat muss das Engagement seiner Bürger unabhängig von ihrem Bekenntnis unterstützen. Er kann sich auch selbst in Wohlfahrt und Bildung engagieren, ja er muss es sogar, wenn ein Mangel besteht oder Bevölkerungsgruppen anderweitig ausgeschlossen würden.

    Was dem Staat aber verwehrt sein muss, ist die feindliche Übernahme von Initiativen aus der Bevölkerung selbst

    Was dem Staat aber verwehrt sein muss, ist die feindliche Übernahme von Initiativen aus der Bevölkerung selbst. Ganz gleich wie gut die Vorsätze sind: Eine solche Politik schränkt die Freiheit der Bürger ein. Wenn wir uns künftig über eine kirchliche Einrichtung aufregen, die von der Allgemeinheit mitgetragen wird, sollten wir nicht gleich nach feindlicher Übernahme schreien. Wir sollten lieber selbst eine Alternative aufbauen. Jede Freiheit dazu haben wir.

     

    Dr. Sven Speer ist Vorsitzender des Forums Offene Religionspolitik (FOR) seit dessen Gründung 2011. Als Mitarbeiter und im Rahmen von Vorträgen und Gutachten berät er Regierungsorganisationen, Abgeordnete, Religionsgemeinschaften und Verbände zum Verhältnis von Staat und Religion – u.a. in Berlin, Jerusalem, Beirut, Kairo, Washington D.C., Houston und Salt Lake City. Er ist darüber hinaus Co-Founder von inteero, einer Plattform für Online-Einrichtungsberatung. Speer hat Politikwissenschaft und Geschichte studiert und am Exzellenzcluster ‚Religion und Politik‘, am German Marshall Fund of the United States und am Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien zur politischen Regulierung von Religion geforscht.