Ganz gleich ob Muslim, Christ oder Atheist: Wir alle sind Yunus

    von Sven W. Speer

    Begonnen hat der Streit, über den heute das Bundesverwaltungsgericht entschieden hat, im November 2007, als die Schulleiterin des Diesterweg-Gymnasiums erfahren hat, dass Yunus mit sieben Mitschülern in einer Pause gebetet hat und dies daraufhin für die Zukunft verboten hat. Yunus hat sich damit nicht abgefunden. Die Auseinandersetzung haben die Medien als einen Konflikt zwischen einem vereinzelten nichtintegrierten, nichtangepassten Einwanderer und einer aufgeklärten Mehrheitsgesellschaft stilisiert. Sinnbildlich dafür ist, dass die Debatte häufig unter dem türkisch-arabischen Namen „Yunus“ geführt wird. Wir lesen, dass sich die Schüler „gen Mekka“ niedergeworfen haben, was die Fremdartigkeit noch unterstreichen soll. Tatsächlich ist eine Ausrichtung ‚ins Ausland‘ auch bei anderen Religionen nicht unüblich. So sind christliche Kirchen traditionell nach Osten (Jerusalem) ausgerichtet. Diese Ausrichtung wird indes selten als Attribut angeführt; das Christentum wird schließlich als Teil Deutschlands angesehen.

    [pullquote_right]Was als Schutz vor einer vermeintlichen Islamisierung der Gesellschaft angesehen wird, ist in Wahrheit ein tiefer Eingriff in die Freiheit von jedem Einzelnen von uns.[/pullquote_right]Das Bundesverwaltungsgericht ermöglicht den Schulen, ihren Schülern Gebete zu verbieten – allerdings nicht unbeschränkt. Dies ist ausschließlich auf Situationen beschränkt, in denen der „Schulfrieden“ gefährdet sei. Diese Formulierung kennen wir bereits aus der so genannten Kopftuchdebatte: Eine Gefährdung des Schulfriedens wird lediglich islamischer religiöser Praxis und ihren Symbolen unterstellt. Woher diese  Bedrohung des Schulfriedens rühren soll, ist mir schleierhaft: Es ist vollkommen normal, dass Schüler auf dem Schulhof in der Pause Gruppen bilden. Das war bei mir in der Schule nicht anders. Bezeichnend ist, dass der Protest gegen das Gebet nicht etwa von anderen Schülern ausging, sondern von den Lehrern. Diese beharrten darauf, dass in Deutschland Staat und Kirche getrennt seien. In der Tat schreibt das Grundgesetz lediglich vor, dass es keine Staatskirche gibt. Zudem greift Artikel 4 (2) des Grundgesetzes: „Die ungestörte Religionsausübung wird gewährleistet.“ Das bedeutet, dass der Staat keine Religion vorgeben darf, zugleich aber die Religionsausübung seiner Bürger nicht einschränken darf. Er darf ihnen kein Gebet aufzwingen, aber er darf ihnen auch nicht verbieten zu beten.

    Den Grundsatz der Religionsfreiheit hat das Bundesverwaltungsgericht heute zu einer Ermessensfrage der Mehrheit erklärt. Wenn sich die Mehrheit von einer Minderheit gestört fühlt, darf sie dieser verbieten, ihre Religion frei auszuüben. Was als Schutz vor einer vermeintlichen Islamisierung der Gesellschaft angesehen wird, ist in Wahrheit ein tiefer Eingriff in die Freiheit von jedem Einzelnen von uns. Wenn wir Minderheiten nicht gestatten, anders zu sein, weil sie damit einen ‚gesellschaftlichen Frieden‘ gefährden würden, so verlieren auch wir das Recht, anders zu sein. Denn bei wechselnden Mehrheiten wird auch unsere freie Selbstentfaltung zu einer Ermessungsentscheidung der Mehrheit. Deutlich wird dies im Falle von Yunus nicht nur dadurch, dass vermeintlich die Mehrheitsgesellschaft gegen einen aufmüpfigen Einzelnen gesiegt hat, sondern auch durch den Verweis darauf, dass die sieben anderen betenden Schülern nicht versucht haben, ihr Recht einzuklagen. Für die Frage der Religionsfreiheit ist der Verzicht einer Mehrheit auf ihr Recht jedoch vollkommen irrelevant. Das Recht kommt jedem Einzelnen zu, ganz gleich wie sich seine Gemeinschaft dazu verhält. Gerade Atheisten sollten sich dessen klar sein, da sie in der Regel keiner Gemeinschaft angehören, die Rechte für sie geltend machen könnte.

    Die Schulen in Berlin waren – unfreiwillig – schon viel weiter in der Frage, wie sie angemessen mit religiöser und weltanschaulicher Vielfalt umgehen können. Denn die Senatsverwaltung hat Leitlinien herausgegeben, wie die Schulen mit betenden Muslimen umgehen sollten. Dort wurde zuerst einmal darauf hingewiesen, dass nur sehr wenige Jugendliche in der Schule tatsächlich beten wollen. Dies ist eine wichtige Feststellung. Ferner heißt es, für das Gebet sei ein abgeschiedener Ort zur unterrichtsfreien Zeit ausreichend und die Verrichtung der Gebete in der Pause möglich, wobei darauf geachtet werden solle, dass der Schulbetrieb nicht gestört werde. Die betenden Schüler dürften die anderen Schüler nicht nötigen, sich ihnen anzuschließen. All dies ist wichtig und richtig. Die Leitlinien stellen einen guten Kompromiss zwischen allen beteiligten Interessen dar. Es ist zu wünschen, dass die Praxis an Berliner Schulen diesen Leitlinien folgt und nicht der Verbotskultur, die das Bundesverwaltungsgericht ermöglicht hat.

    Yunus kann jedoch noch vor das Bundesverfassungsgericht ziehen. Ich wünsche es mir für Deutschland und hoffe, dass das höchste deutsche Gericht der individuellen Freiheit einen höheren Stellenwert beimisst als dem Willen der Mehrheit. Davon hängt nicht nur die Freiheit von Yunus und den Muslimen in Deutschland ab. Das entscheidet über die Freiheit und das Recht jedes Einzelnen von uns, inwieweit wir anders, wir selbst sein können.

    Dr. Sven Speer ist Vorsitzender des Forums Offene Religionspolitik (FOR) seit dessen Gründung 2011. Als Mitarbeiter und im Rahmen von Vorträgen und Gutachten berät er Regierungsorganisationen, Abgeordnete, Religionsgemeinschaften und Verbände zum Verhältnis von Staat und Religion – u.a. in Berlin, Jerusalem, Beirut, Kairo, Washington D.C., Houston und Salt Lake City. Er ist darüber hinaus Co-Founder von inteero, einer Plattform für Online-Einrichtungsberatung. Speer hat Politikwissenschaft und Geschichte studiert und am Exzellenzcluster ‚Religion und Politik‘, am German Marshall Fund of the United States und am Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien zur politischen Regulierung von Religion geforscht.