Für eine Abkehr von Integration und Inklusion

    von Sven W. Speer

    Wer sich für Integration oder Inklusion einsetzt, hält eine Gesellschaft ohne Konflikte für möglich. Diese Vorstellung ist nicht nur utopisch, sondern auch gefährlich. Utopisch ist sie, weil sich die Werte und Interessen der Menschen nicht miteinander vereinen lassen. Eine Gesellschaft frei von Konflikten und Tragik hat es nie gegeben und wird es nie geben.

    Gefährlich ist die Vorstellung, weil sie dazu geeignet ist, die Freiheit des Einzelnen massiv zu beschneiden. Zur Erreichung des Ziels gesellschaftlicher Harmonie sollen vermeintlich rand- und rückständige Minderheiten in die Mehrheitsgesellschaft integriert werden. Vorgeblich soll diese Integration den Menschen helfen, sich frei zu entwickeln. Tatsächlich gilt aber nur derjenige als integriert und frei, der sich dafür entschieden hat, was in den Augen anderer, der Mehrheitsgesellschaft richtig ist.

    Diese potentielle Entmündigung des Individuums durch Integrationspolitik wird immer mehr Menschen bewusst. Sie schlagen vor, stattdessen eine Politik der Inklusion zu verfolgen. Darunter verstehen sie das Ziel, keinen Teil der Gesellschaft als Leitbild anzusehen, sondern stattdessen direkt bei jedem Einzelnen anzusetzen. Sie nehmen an, jeder werde in seiner Individualität durch andere ausgeschlossen oder schließe selbst andere aus. Damit wird eine Politik gerechtfertigt, jeden in eine Gesellschaft einzugliedern, die niemanden ausschließt. Dabei nimmt der Staat allerdings für sich in Anspruch, besser als der einzelne Bürger zu wissen, was das Richtige für ihn ist – auch gegen seinen erklärten Willen. Dies ist, was Jean-Jacques Rousseau meinte, als er sagte, die Gesetze der Freiheit können sich als strenger erweisen als das Joch der Tyrannei.

    Ob ein Mensch frei ist, entscheidet sich nicht daran, wofür er sich entscheidet, sondern dass er sich entscheidet

    Ob ein Mensch frei ist, entscheidet sich nicht daran, wofür er sich entscheidet, sondern dass er sich entscheidet. Wenn wir auf Integration und Inklusion als Konzepte verzichten, müssen wir uns dann auf gesellschaftliches Laissez-faire beschränken? Alles hinnehmen, wie es ist? Zweifellos sind nicht alle Menschen frei in ihren Entscheidungen. Damit müssen und dürfen wir uns nicht abfinden. Unsere Aufgabe ist, allen Menschen Wahlmöglichkeiten zu eröffnen. Jeder muss frei wählen können. Die Ergebnisse dieser Wahlentscheidungen hingegen müssen wir hinnehmen. Ob ein Mensch frei ist, entscheidet sich nicht daran, wofür er sich entscheidet, sondern dass er sich entscheidet. Als freier Mensch hat er das Recht, sich auch gegen Inklusion zu entscheiden. Seiner Wahlfreiheit ist erst da eine Grenze gesetzt, wo er andere in unzumutbarem Maße in ihren Wahlmöglichkeiten einschränkt.

    Isaiah Berlin bemisst die Freiheit einer Gesellschaft treffend an der Zahl der Wege, die sie für ihre Angehörigen offen hält. Eine solchermaßen freie Gesellschaft wird nicht weniger konfliktreich sein. Konflikte werden sogar eher zu- als abnehmen, wenn immer mehr Menschen ihre Freiheit nutzen und eigene Wege gehen. Keine unsichtbare Hand wird diese Konflikte ausgleichen. Das einzige, worauf wir hoffen können, ist, dass wir als Gesellschaft lernen können, mit Unterschieden und Konflikten umzugehen. Dafür ist es notwendig, dass Unterschiede weder versteckt noch banalisiert werden. Nur dort, wo Unterschiede erfahrbar sind, kann der Umgang mit ihnen eingeübt werden.

    Dr. Sven Speer ist Vorsitzender des Forums Offene Religionspolitik (FOR) seit dessen Gründung 2011. Als Mitarbeiter und im Rahmen von Vorträgen und Gutachten berät er Regierungsorganisationen, Abgeordnete, Religionsgemeinschaften und Verbände zum Verhältnis von Staat und Religion – u.a. in Berlin, Jerusalem, Beirut, Kairo, Washington D.C., Houston und Salt Lake City. Er ist darüber hinaus Co-Founder von inteero, einer Plattform für Online-Einrichtungsberatung. Speer hat Politikwissenschaft und Geschichte studiert und am Exzellenzcluster ‚Religion und Politik‘, am German Marshall Fund of the United States und am Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien zur politischen Regulierung von Religion geforscht.