Die Entgrenzung des Öffentlichen – und das Verschwinden des Privaten

    Ein Blick in die Medien, insbesondere in die sozialen Medien, zeigt: Die Ansprüche und Forderungen der Öffentlichkeit entgrenzen zunehmend. Nichtmuslime verlangen von muslimischen Lehrerinnen (wenn nicht gar von allen muslimischen Frauen), kein Kopftuch zu tragen, weil das Kopftuch vermeintlich die eigene Religionsfreiheit stört. Gemeint ist damit wohlgemerkt die Religionsfreiheit des Nichtträgers, nicht der Trägerin. Das Verbot der Vollverschleierung durch die Burka ist zum Teil richterlich bestätigt. Begründung: Die muslimische Frau darf sich der zwischenmenschlichen Kommunikation nicht entziehen – auch wenn mitunter gar niemand mit ihr sprechen will.

    Die Öffentlichkeit macht aber nicht bei Äußerlichkeiten halt. Initiativen gegen die Thematisierung von sexuellen Identitäten in der Schule greifen um sich, ganz so, als könne die (angeborene) sexuelle Identität von Schülerinnen und Schülern einfach ignoriert werden. Noch einen Schritt weiter gehen die Diskussionen der vergangenen Tage, in denen allen Muslimen, die sich nicht explizit vom islamistischen Terror distanzieren, unterstellt wird, sie würden insgeheim mit diesem sympathisieren, ihn befeuern oder ihn gar erst ermöglichen. Dass Tausende Muslime gegen den Terror demonstrieren – und weltweit die meisten Opfer zu beklagen haben – wird dabei erst gar nicht gesehen. Darüber wird nur selten berichtet und wenn, wird es offenbar nicht wahrgenommen. Das wiederum macht das Thema freilich noch weniger interessant für die Medien.

    Die Öffentlichkeit überschreitet die Grenzen ihrer Forderungen vom Anspruch auf das Erscheinungsbild des anderen auf dessen Äußerungen und schließlich gar auf dessen Nichtäußerungen. Früher galten Glaube, Liebe und Gewissen als etwas Privates im Sinne eines Schutzes vor der Öffentlichkeit. Heute hingegen wird mit Privatsache etikettiert, was der Einzelne weitgehend aus der Öffentlichkeit herauszuhalten habe. Privatheit ist kein Mittel der Entfaltung mehr, sondern eines der Beschränkung.

    Norbert Elias hat diesen „Prozeß der Zivilisation“ bereits 1939 beschrieben. Je vielfältiger eine Gesellschaft werde und desto stärker die Bedürfnisse auseinander gingen, desto größer werde der „gesellschaftliche[.] Zwang zum Selbstzwang“. Während dieser Prozess an seinem Anfang noch für die freiheitsförderliche Monopolisierung von Gewalt steht, weitet er sich mit der Zeit immer stärker zu einem freiheitsberaubenden Vorgang. Er bedeutet den Verzicht auf den Ausdruck dessen, was den Einzelnen im Innersten bewegt, zu Gunsten eines gesellschaftlichen Friedens.

    Untergang der öffentlichen Diskussionskultur

    Wer bestimmt darüber, in welcher Weise sich der Einzelne selbst beschränken muss, um dem gesellschaftlichen Frieden zu dienen? Während Elias diesen Prozess zuerst bei der höfischen Gesellschaft und später bei den Staaten verortet, wird für die Prägung des Einzelnen die Öffentlichkeit immer bedeutender. Während Kant noch davon ausgeht, dass sich ein Publikum durch öffentliche Diskussion selbst aufklärt, sind heutzutage Zweifel angemeldet. Onlinemedien (auch das Forum Offene Religionspolitik) schließen ihre Kommentarfunktionen aufgrund zahlloser Beleidigungen und Verletzungen, die bis zur Volksverhetzung reichen.

    In den sozialen Medien zeigt sich das gleiche Problem: Ein Großteil der Nutzer von Facebook empfindet einer Studie zufolge die dort verbrachte Zeit als nutzlos. Auch mein eigener Puls rast regelmäßig hoch, wenn ich die Meinungen mancher Facebookfreunde lese – was denen bei meinen Beiträgen ganz ähnlich geht. Obwohl es bei Facebook nur einen „Gefällt mir“-Button und keinen mit „Gefällt mir nicht“, überwiegen in den Nutzerkommentaren zu politischen Fragen häufig destruktive Stellungnahmen. In der Öffentlichkeit wird weniger räsoniert und Konsens gesucht, es werden vielmehr Konflikte getragen.

    Die Probleme der vielfältigen und konflikthaften Öffentlichkeit wurden indes früh erkannt. Thomas Hobbes (1588-1679) setzte auf ein säkulares Fundament der öffentlichen Ordnung unter Ausklammerung aller konfessionellen Unterschiede. John Locke (1632-1704) wollte im öffentlichen Diskurs nur Protestanten zulassen und Katholiken und Atheisten ausschließen. Immanuel Kant (1724-1804) empfahl, die abhängig Beschäftigten aus den öffentlichen Diskussionen auszuschließen und diese für Privateigentümer zu reservieren.

    Ein letzter Hort des aufklärenden Charakters der Öffentlichkeit könnte das öffentlich-rechtliche Fernsehen sein, das den Eindruck vermitteln will, keine partikularen Interessen zu vertreten. Die Realität sieht nur leider anders aus. Vor ein paar Tagen fragte mich mein Bruder, ob ich gerade „Günther Jauch“ schaue. Ich verneinte und erklärte – ohne das Thema des Abends zu kennen: „Die erzählen doch immer die gleichen Phrasen. Beispiel Islam: Es werden immer ein radikal liberaler und ein radikal islamistischer Moslem eingeladen. Der Mehrheitsmuslim kommt nicht vor, weil er zu langweilig ist.“ Und siehe da, es war genau so. Öffentlichkeit als Aufklärung? Fehlanzeige.

    Die Ermächtigung der Mehrheit

    Das alles wäre unproblematisch, wenn sich der Einzelne der Öffentlichkeit entziehen könnte. Aber anders als Jürgen Habermas noch 1962 postulierte, wird die Öffentlichkeit nicht kraftloser, sondern immer mächtiger. Ursprünglich als Mittel der Herrschaftsbegrenzung entstanden, ist die Öffentlichkeit längst zentraler Ort der Machtausübung, der Begrenzung der Freiheit des Einzelnen geworden. Paradoxerweise ist es gerade die Selbstreflexion des Menschen, die diese Unterdrückung ermöglicht.

    Den Menschen unterscheidet vom Tier, dass er über sich selbst nachdenken und bewusste Entscheidungen treffen kann. Immanuel Kant hat diese Vermutung positiv aufgeladen und als „Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit“ bezeichnet. Problematisch ist nun, dass der Mensch nicht nur über die eigenen Defizite räsoniert, sondern auch über die der anderen. Während Völkermord unter (anderen) Primaten zwar bekannt ist im Kampf um Reviere, hat es nur der Mensch geschafft, Gewalt auszuüben wegen dem, was innerhalb der Köpfe geschieht, dem was gedacht und gefühlt wird.

    Befeuert wird diese Ermächtigung der Öffentlichkeit nicht nur durch die sozialen Medien, sondern zunehmend auch die Glorifizierung von Demokratie und Mehrheitsprinzip. Zwar sind Demokratie und Mehrheitsprinzip die wohl sinnvollsten Wege, öffentliche Ordnungen zu lenken. Aber ihre Stärke liegt im Sinne der Freiheit darin, dass Regierungen abgewählt werden können, nicht darin, sie zu allerlei Einschränkungen zu berechtigen. Zu einer freiheitlichen Ordnung gehört es auch, sich der Mehrheit des Volkes in vielen Lebensbereichen, insbesondere den intimsten entziehen zu können.

    Selbst der Wahlakt an sich wird zur Gewissensfrage stilisiert. Wer nicht wählt, wähle extrem, wird gesagt. Vielleicht sind es aber auch die Extremen, die nicht wählen – und das könnte gut so sein. Wer weiß das schon? Der Wähler (oder besser: der Wahlberechtigte) möge doch bitte wählen, wer seine Freiheit einschränkt. Alles, was politisch aus der Rolle fällt, wird als „schrille Minderheit“ bezeichnet und delegitimiert, während sich gleichzeitig manche gesellschaftlichen Mehrheiten als schrille Minderheiten inszenieren und sich als Opfer darstellen. Die Schlachtfelder sind Öffentlichkeit, Meinungsumfragen und Wahlkabinen, der Lohn des Siegers ist aber zu oft die Gesellschaftsreform.

    Politikverdruss aus Politiküberdruss

    Die Messlatte für Politik wird immer höher gehängt. Waren früher noch der Einzelne, die Familien und die Gemeinschaften für die Verwirklichung des Glücks verantwortlich, richten sich heute Sorgen und Nöte an den Staat, der unser aller Probleme lösen soll – auch gegen den Willen von Einzelnen, Familien und Gemeinschaften. Die Politik lässt sich zu immer neuen Versprechungen hinreißen, den Ansprüchen der entgrenzten Öffentlichkeit entsprechen zu können. Tatsächlich reißt sie aber nur die Freiheitsgrenzen des Einzelnen ein, ohne einen konkreten Mehrwert bieten zu können. Das Glück bleibt aus, auch wenn die Freiheit verloren ist.

    Nachdem die Idee einer politischen Steuerung, also einer absichtsvollen und zielgerichteten Veränderung gesellschaftlicher Umstände durch die Politik, eine Zeit lang auf große Begeisterung in den Sozialwissenschaften stieß, sind die Zweifel der Zunft mittlerweile deutlich gestiegen. Besonders eindrucksvoll ist die Argumentation von Hartmut Rosa: Während der Staat im Zeitalter der Modernisierung noch als Beschleuniger auftreten und „progressiv“ wirken konnte, ist der Staat in der Postmoderne der Bremser dynamischer Prozesse in der Gesellschaft. Der Staat kommt mit seinen mehrheits- oder konsenssuchenden Verfahren und seiner Bürokratie nicht die Geschwindigkeit sozialer Netze – online wie offline – heran.

    Die zunehmende Unfähigkeit des Staates zu politischer Steuerung eröffnet indes Freiräume nur für die Gewieften. Die IT-Nerds, die Aussteiger, die Radikalen und Militanten untergraben die politische Steuerung am effektivsten – und sind wohl zugleich diejenigen, die die für den Staat dringlichsten Adressaten seiner Politik sind. Die große Mehrheit der Bevölkerung, die einfach nur in Ruhe und Frieden leben will, wird von der politischen Steuerung jedoch in besonderer Weise betroffen. Sie ist zu langsam, um nicht vom Staat erfasst zu werden. Und so trifft jeder staatliche Eingriff, der eigentlich andere treffen soll, eben sie.

    Aus dieser Trias der immer höheren Ansprüche, der immer höheren Regelungsdichte und des zugleich immer unfähigeren Staates erwächst ein Politikverdruss aus Politiküberdruss. Politikverdrossenheit wird zum Schlagwort all jener, die – meist ihren eigenen – Einfluss auf den Staat stärker begründen wollen. Aber muss in einer freiheitlichen Gesellschaft jeder politikbegeistert sein? Ein Element moderner und postmoderner Gesellschaften ist die funktionale Differenzierung. Menschen gehen dem nach, was sie am besten können, was sie am meisten begeistert oder wo sie am meisten gebraucht werden. Warum sollte das für die Politik nicht gelten? Entscheidend ist nur, dass sich jeder politisch engagieren kann, wenn er denn will.

    Ein Plädoyer für Toleranz als Untugend

    Am Ende eines politischen Essays wird erwartet, dass Empfehlungen gegeben werden, wie sich die Probleme lösen lassen. Würde ich Empfehlungen abgeben, die einen Großteil der Probleme lösen, wäre ich nicht besser als diejenigen, die ich kritisiere. Leid und Konflikte gehören zur menschlichen Existenz dazu. Das ist nicht erfreulich, aber nicht zu ändern. Ganz gleich, ob wir die Ursache dafür in der Erbsünde sehen oder darin, dass Menschen letztlich nicht viel anderes als mutierte Fische sind: Wir sind, wie wir sind. Fehlerbehaftet.

    Um mit unseren Unterschieden und den daraus resultierenden Konflikten besser umgehen zu lernen, mag es helfen, begrenzt öffentliche Räume zu schaffen. Das Forum Offene Religionspolitik schafft diese Räume in Bezug auf religiöse und weltanschauliche Vielfalt. Bei unseren Veranstaltungen kommen Menschen ganz unterschiedlicher Hintergründe zusammen. Im geschützten Raum trauen sie sich, aneinander Fragen zu stellen. Die Fragen sind dabei oft die immer gleichen: Warum trägst Du ein Kopftuch? Wie ist das, Jude zu sein? Hast Du als Atheist Werte? Es sind immer wieder die banalsten Dinge, die hinter- und gefragt werden. Dafür muss man als Antwortender geduldig sein. Nicht jeder will sich dem immer stellen und das ist sein gutes Recht.

    Wir werden aber nicht alle Menschen verstehen können. Wir werden weder nachvollziehen noch gutheißen können, wie jeder andere sein Leben gestaltet. Zu einem gedeihlichen Miteinander kommen wir daher nur, indem wir toleranter werden. Und ich meine tatsächlich Toleranz: Leidend zu ertragen, was andere tun, was andere denken. Nicht mehr, aber auch nicht weniger. Toleranz ist keine Tugend, sie muss eine Untugend sein. Tolerant zu sein, heißt, das zu ertragen, was in den eigenen Augen eben nicht tugendhaft ist. Kümmern wir uns mehr um das eigene Leben, die eigene Familie, die eigenen Gemeinschaften. Das ist allesamt fruchtbarer und nachhaltiger als andere Menschen dazu zu bewegen, so zu leben wie wir – oder wie wir es gern hätten.

    Manchmal bringt ein Lyriker treffend auf den Punkt, wo andere Seite schreiben müssen. Daher schließe ich mit Friedrich Hölderin: „Du räumst dem Staate denn doch zuviel Gewalt ein. Er darf nicht fordern, was er nicht erzwingen kann. Was aber die Liebe gibt und der Geist, das läßt sich nicht erzwingen. Das lass‘ er unangetastet, oder man nehme sein Gesetz und schlag‘ es an den Pranger! Beim Himmel! der weiß nicht, was er sündigt, der den Staat zur Sittenschule machen will. Immerhin hat das den Staat zur Hölle gemacht, daß ihn der Mensch zu seinem Himmel machen wollte.“

    Dr. Sven Speer ist Vorsitzender des Forums Offene Religionspolitik (FOR) seit dessen Gründung 2011. Als Mitarbeiter und im Rahmen von Vorträgen und Gutachten berät er Regierungsorganisationen, Abgeordnete, Religionsgemeinschaften und Verbände zum Verhältnis von Staat und Religion – u.a. in Berlin, Jerusalem, Beirut, Kairo, Washington D.C., Houston und Salt Lake City. Er ist darüber hinaus Co-Founder von inteero, einer Plattform für Online-Einrichtungsberatung. Speer hat Politikwissenschaft und Geschichte studiert und am Exzellenzcluster ‚Religion und Politik‘, am German Marshall Fund of the United States und am Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien zur politischen Regulierung von Religion geforscht.