Die Diskussion, ob der Islam nun Teil Deutschlands ist oder nicht, erinnert mich sehr stark an die Konfessionalisierung in der Frühen Neuzeit. Damals haben die Fürsten bestimmt, welche Konfession der wahre Glauben in ihrem Herrschaftsbereich war. Wer dieser nicht angehörte, war im besten Fall geduldet – für viele galt aber nicht einmal das. Über die Jahrhunderte hinweg hat dann der Staat nach und nach weitere Bekenntnisse anerkannt: Erst haben sich die Katholiken und Lutheraner wechselseitig toleriert, dann kamen die Reformierten dazu. Schließlich wurden auch Juden und kleinere christliche Kirchen anerkannt. Mittlerweile sind wir bei einer christlich-jüdischen Identität angelangt, die aber längst nicht alle Deutschen umfasst: Über eine Million Deutsche sind Muslime, über zwanzig Millionen sind Nichtreligiöse.
Das Muster ist immer dasselbe: Eine Minderheit ist darauf angewiesen, dass eine Mehrheit sie duldet. Die Mehrheit und der Staat (häufig auch er allein) geben vor, wer dazu gehört und wer nicht. In einer freiheitlichen Gesellschaft jedoch ist jeder Bürger Teil seines Landes – und zwar mit allem, was er mit sich bringt. Nicht der Staat und die Mehrheit bestimmen, was ein Land ausmacht, sondern die Summe seiner Bürger. Das Versprechen unseres Grundgesetzes lautet: „Niemand darf wegen seines Glaubens oder seiner religiösen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden.“ und: „Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich.“
Deutschland ist Heimstatt aller seiner Bürger, wie das Bundesverfassungsgericht längst klargestellt hat. Der römische Katholizismus, das Luthertum und das Judentum sind Teil Deutschlands. Teil Deutschlands sind aber auch Muslime, Reformierte, Altkatholiken, Buddhisten, Siebenten-Tags-Adventisten, Jehovas Zeugen, Mormonen, Orthodoxe, Baha’i, Methodisten, Ahmadi, Aleviten, Freireligiöse, Unitarier, Humanisten, Wicca und mit ihnen jedes ihrer Bekenntnisse. Jeder, der Bürger unseres Landes ist, trägt zu seiner Identität bei.
Wir sind das Land von Barbarossa, Beethoven und Bismarck. Das stellt niemand in Frage. Aber wir sind heute auch das Land von Kevin, Noah und Ayse. In all unserer Unterschiedlichkeit sind wir es, was Deutschland ausmacht. Deutschland ist auch Dein Land. Anstatt darüber zu streiten, wer von uns Bürger erster und wer Bürger zweiter Klasse ist, sollten wir an einem Deutschland arbeiten, das das Versprechen des Grundgesetzes einlöst und unser aller Heimat ist. In diesem Deutschland kann jede Gemeinschaft frei wirken, um Anhänger werben und ihr Leben nach ihren Vorstellungen leben – sofern andere dadurch nicht gefährdet werden.
In diesem Deutschland propagiert und protegiert der Staat keine religiöse oder weltanschauliche Tradition. Wir werden nur frei sein, wenn wir gemeinsam für die Freiheit des jeweils anderen einstehen. Nur wenn wir den anderen ihre vollen Rechte als Menschen und Bürger garantieren, werden auch unsere Rechte garantiert. Dafür müssen Christen ihre Stimme für die Anerkennung der Muslime erheben. Muslime müssen für die Anerkennung von Atheisten werben. Und Atheisten müssen sich einsetzen für die Anerkennung von Juden und den vielen kleinen Gemeinschaften. Anstatt nur für unsere eigene Anerkennung zu kämpfen, müssen wir uns für die Freiheit als solche stark machen. Das ist die Mission des Forums Offene Religionspolitik.