Landauf, landab wird diskutiert, wie die deutsche Religionspolitik mit dem Islam umgehen müsse. Aber wie verändert die Präsenz des Islam eigentlich die deutsche Religionspolitik? Dieser Frage bin ich auf Einladung von Prof. Dr. Dr. Rauf Ceylan und Prof. Dr. Dr. Peter Antes in ihrem Sammelband „Muslime in Deutschland: Historische Bestandsaufnahme, aktuelle Entwicklungen und zukünftige Forschungsfragen“ nachgegangen (zum Buch bei Springer VS).

Konkurrierende Annahmen der Wissenschaft

In der Politikwissenschaft sind die Auswirkungen religiöser Vielfalt umstritten. Das Erstarken der Katholiken in den USA im 19. Jahrhundert hat dort bspw. zu einer stärkeren Trennung von Staat und Religion geführt. Eine andere These besagt, dass die religiös-weltanschauliche Pluralisierung einer Gesellschaft zu einem höheren Maß an Gleichbehandlung aller Religionen und Weltanschauungen führt. Zuletzt gibt es aber auch die Annahme, dass die Pluralisierung eine politische Stärkung der etablierten Akteure und Diskriminierung der neuen religiös-weltanschaulichen Gemeinschaften nach sich zieht.

Auswirkungen auf Diskurs und materielle Politik

Welche dieser Annahmen für Deutschland zutrifft, ergründe ich in fünf Schritten. Zuerst stelle ich dar, seit wann in Deutschland überhaupt wieder von „Religionspolitik“ gesprochen wird. Bis in die 1990er Jahre war der Begriff ungebräuchlich, in Verbindung mit so genannten Sekten und dem Islam taucht er dann jedoch immer häufiger auf und ist heute fest etabliert.

Im zweiten Schritt untersuche ich, inwieweit sich der Islam auch auf die materielle Politik ausgewirkt hat. Anhand der religionspolitischen Entscheidungen der deutschen Parlamente von 1990 bis 2016 zeige ich, dass es eine starke Ungleichbehandlungen der Religionen und Weltanschauungen gibt. Während die beiden etablierten Kirchen und etablierte jüdische Gemeinden (fast) durchgehend von den politischen Entscheidungen profitieren, sind die Entscheidungen bezüglich des Islams sehr gemischt und eher kritisch. Negativ betroffen waren vor allem Jehovas Zeugen, so genannten Sekten und Psychogruppen und der Humanistische Verband.

Neue Kräfteverhältnisse durch Muslime in Deutschland

Anschließend diskutiere ich im dritten Schritt, ob sich durch die vergleichsweise hohe Zahl der Muslime (etwa vier Millionen) die religionspolitischen Kräfteverhältnisse verschoben haben. Dem ist tatsächlich der Fall, aber anders als erwartet. Der Islam in Deutschland ist aufgrund seiner fragmentierten Struktur und eines nichteinheitlichen Wahlverhaltens nicht in der Lage, eine ähnliche politische Kultur und Gestaltungskraft wie bspw. der Katholizismus aufzubauen. Gleiches gilt, so führe ich aus, für die Nichtreligiösen in der Gesellschaft. Die neuen Größen in der deutschen Religionspolitik sind hingegen Islamskepsis und Islamophobie, die weite Teile der Bevölkerung erfassen und mobilisieren.

Die Befunde der ersten drei Schritte lassen darauf schließen, dass Religionspolitik sich in Deutschland als Integrationspolitik re-formiert. Ähnlich wie technische Risiken in den 1980er und 1990er Jahren zu einer neuen staatlichen Expansion auf Grundlage einer „Legitimation durch Risiko“ (Roland Czada) geführt haben, sind es nun die Ängste vor islamischer Überfremdung und islamistischem Terror, die religionspolitische Eingriffe des Staates ermöglichen, die vor den 1990er Jahren undenkbar gewesen wären.

Die Suche des Staates nach einem Kooperationspartner

Im deutschen Kooperationsmodell von Staat und Kirche bzw. Religion brauchen die staatlichen Stellen jedoch einen Ansprechpartner auf religiöser Seite, um religionspolitisch handeln zu können. Die staatlichen Akteure sind dabei höchst ungeschickt vorgegangen. Zuerst haben sie den türkischen  Staat und den deutschen Dachverband DITIB als alleinigen Kooperationspartner betrachtet, dann die Gründung von breiter aufgestellten Dachverbänden auf Landesebene (Schuren) gefördert und schließlich die Deutsche Islamkonferenz auf Bundesebene betrieben, die zum Koordinationsrat der Muslime in Deutschland geführt hat. Keiner dieser von der deutschen Politik mit geformten Verbände genießt heute deren volles Vertrauen. Die dadurch entstandene Komplexität der Verbände erschwert politische Steuerung aber deutlich.

Fazit

Als Fazit ziehe ich, dass die „neue“ deutsche Religionspolitik tatsächlich durch die Präsenz des Islam ausgelöst worden ist und dem Staat neue Handlungsspielräume eröffnet hat, die vorher undenkbar waren. Die Ergebnisse dieser Religionspolitik als Integrationspolitik sind indes bescheiden. Das liegt vor allem daran, dass es kaum gesicherte wissenschaftliche Erkenntnisse darüber gibt, wie sich Religionspolitik tatsächlich auswirkt. Auch wenn viele ihr politisches Ziel fest vor Augen haben, so ist der Weg dahin doch verborgen – was niemanden daran hindert, munter drauf los zu marschieren.

Publikation

Speer, Sven W. 2017. Deutsche Religionspolitik im Kontext des Islam. Ursachen und Auswirkungen der Re-Formation von Religionspolitik als Integrationspolitik. In: Peter Antes und Rauf Ceylan (Hrsg.), Muslime in Deutschland. Historische Bestandsaufnahme, aktuelle Entwicklungen und zukünftige Forschungsfragen. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, 115-150. doi:10.1007/978-3-658-15115-7_6

 

 

Dr. Sven Speer ist Vorsitzender des Forums Offene Religionspolitik (FOR) seit dessen Gründung 2011. Als Mitarbeiter und im Rahmen von Vorträgen und Gutachten berät er Regierungsorganisationen, Abgeordnete, Religionsgemeinschaften und Verbände zum Verhältnis von Staat und Religion – u.a. in Berlin, Jerusalem, Beirut, Kairo, Washington D.C., Houston und Salt Lake City. Er ist darüber hinaus Co-Founder von inteero, einer Plattform für Online-Einrichtungsberatung. Speer hat Politikwissenschaft und Geschichte studiert und am Exzellenzcluster ‚Religion und Politik‘, am German Marshall Fund of the United States und am Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien zur politischen Regulierung von Religion geforscht.