Beschneidung zeigt, wie schmerzhaft Toleranz ist

    In der Regel fällt es mir leicht, auf Grundlage der Offenen Religionspolitik Lösungen für Konflikte zu entwickeln. Bei der Frage der Beschneidungen von Jungen hingegen bin ich tief gespalten. Mein erster Reflex war, Juden und Muslimen die Beschneidung zuzugestehen. Je stärker ich mich mit der Thematik beschäftigt habe, desto größer wurden jedoch die Zweifel an dieser Position.

    Zweifel gesät haben bei mir anfangs nicht einmal die Gegner der Beschneidung, sondern deren Befürworter. Jedes Argument, das berechtigterweise gegen die Beschneidung ins Feld geführt wurde, wurde ohne jede Reflexion vom Tisch gefegt. „Wir lassen uns von Nicht-Juden nicht bevormunden.“ „Wir sitzen auf gepackten Koffern.“ Ein offener Diskurs sieht anders aus. Ganz schnell bei der Hand ist auch die Nazi-Keule. Wer gegen die Beschneidung ist, sei gegen Juden, sei Antisemit und keinen Deut besser als die Nazis. Juden haben in Deutschland Unbeschreibliches erlebt – keine Frage. Aber nur weil sich in den Chor der Beschneidungsgegner braune Stimmen mischen, wird daraus noch lange kein Nazi-Chor.

    Wie sieht es aus mit den Vorteilen für das Kind, von denen die Beschneidungsbefürworter sprechen? Hygiene und Gesundheit werden meist ins Feld geführt. Die HIV-Ansteckungsrate sinkt genau wie die Gefahr von Gebärmutterhalskrebs bei Sexualpartnerinnen. Der Vergleich zwischen unbeschnittenem und beschnittenem Penis hinkt jedoch, lassen sich Hygiene und Gesundheit doch schlicht mit Waschen und Kondomen sicherstellen. Ich sehe daher keinen gesundheitlichen Mehrwert.

    [pullquote_right]Grundsätzlich zieht eine Offene Religionspolitik der Religion Grenzen. Nicht alles, was geglaubt werden kann, darf auch getan werden.[/pullquote_right]Ein weiteres wichtiges Argument für die Befürworter ist, dass die Beschneidung für die Religionszugehörigkeit unverzichtbar sei. Grundsätzlich kann jedoch jeder unbeschnittene Mann Muslim oder Jude sein. Jude ist jeder, der von einer jüdischen Mutter geboren wurde. Muslim ist jeder, der von einem muslimischen Vater gezeugt wurde oder die Shahada ausspricht. Im religiösen Leben spielt die Beschneidung in beiden Religionen trotzdem eine zentrale Rolle. Es ist aber unredlich zu sagen, ohne sie könnten Jungen nicht Teil der Religion sein.

    Schließlich will ich noch auf das Argument eingehen, dass nichtbeschnittene Jungen in ihrer jüdischen oder muslimischen Gemeinschaft stigmatisiert würden. Dieses Argument überzeugt mich nicht im Mindesten und wirft die Frage auf: Wie kann eine Gemeinschaft, die derart intolerant ist, Toleranz einfordern?

    Mich überzeugt so gut wie kein Argument derjenigen, die sich lauthals für die Beschneidung von Jungen einsetzen. Befürworte ich deshalb ihr Verbot? Grundsätzlich zieht eine Offene Religionspolitik der Religion Grenzen. Nicht alles, was geglaubt werden kann, darf auch getan werden. Die Grenzen sind die Würde des Menschen, die körperliche Entwicklung des Kindes und seine grundlegende Sozialisation. Die Beschneidung stellt eine Körperverletzung dar, so viel ist sicher. Die Frage ist, ob diese Form der Körperverletzung zulässig ist. Andere Körperverletzungen können Eltern durchführen lassen oder bewusst in Kauf nehmen: Ohrlöcher stechen, Schönheitsoperationen, die Verletzung bei Sport und Spiel. Körperverletzungen sind wohl nur dann problematisch, wenn sie die Menschenwürde des Kindes verletzen. Ist das bei der Knabenbeschneidung der Fall? Wenn die Beschneidung von Jungen gegen die Menschenwürde verstieße, wären Judentum und Islam menschenverachtende Religionen. Ich bin fest davon überzeugt, dass dies nicht der Fall ist. Nur weil eine Mehrheit der Bevölkerung (mich eingeschlossen) eine bestimmte Praxis ablehnt, heißt dies noch nicht, dass diese Praxis damit gegen die Menschenwürde verstößt.

    So stellt sich schließlich die Frage, ob eine Gesellschaft, die mehrheitlich – aus meines Erachtens guten Gründen – gegen die Beschneidung ist, die Beschneidung von Jungen aus religiösen Gründen hinnehmen muss. Stellt die Entfernung der Vorhaut einen Eingriff dar, der alles, was Eltern ihren Kindern legal zufügen können, in den Schatten stellt? Ich denke nicht. Kinder werden zutiefst von ihren Eltern geprägt. Die Sozialisation im Elternhaus entscheidet weitgehend über das Leben eines jeden Kindes: das gesellschaftliche Umfeld, den beruflichen Erfolg und auch die sexuelle Erfüllung. Um letztere dreht sich die Diskussion ja in erster Linie. Ich glaube, die Eltern beeinflussen das sexuelle Lustempfinden durch ihre Erziehung weit stärker als durch eine Beschneidung. Kann der Junge im Laufe seines Lebens seine Sexualität ohne Schuldgefühle ausleben und erleben? Sexuelle Erfüllung ist keine Sache allein der Vorhaut, sondern auch des Kopfes und wohl vor allem des Herzens. Auch als Beschnittener kann ein Mann ein erfülltes Leben haben.

    Wie aus meinem Beitrag bereits deutlich wurde, empfinde ich die aktuelle Debatte als sehr anstrengend. Ich wünsche mir, dass sie zu einer Diskussion wird, in der zumindest ansatzweise offen über die Problematik gesprochen wird. Dass wir überhaupt über die Beschneidung von Jungen sprechen, empfinde ich allerdings bereits als großen Fortschritt. Gerade auch, weil ich gegen Beschneidungen bin und selbst vermeintlich medizinische Indikationen in aller Regel für höchst fragwürdig halte.

    Kann meine persönliche Haltung aber Vorschrift für die gesamte deutsche Gesellschaft sein? Mein erklärtes Ziel ist eine Offene Religionspolitik. Daher stehe ich vor der Frage: Wie offen kann eine religionspolitische Ordnung sein, die selbst von den aufgeklärten Vertretern zweier Weltreligionen nicht geteilt werden kann? Eine Offene Religionspolitik soll keine neuen Kulturkämpfe entfachen. Den Verlust an Prinzipientreue nimmt Offene Religionspolitik in Kauf, um vorläufige Kompromisse zu erreichen, neue Formen des Miteinanders zu entwickeln und zu erproben. Auch wenn ich heute ein Verbot von religiös begründeten Knabenbeschneidungen ablehne, so kann ich doch nur hoffen, dass allein schon die aktuelle Debatte Eltern davon abhält, ihre Söhne beschneiden zu lassen. Toleranz war für mich selten so schmerzhaft.

    Dr. Sven Speer ist Vorsitzender des Forums Offene Religionspolitik (FOR) seit dessen Gründung 2011. Als Mitarbeiter und im Rahmen von Vorträgen und Gutachten berät er Regierungsorganisationen, Abgeordnete, Religionsgemeinschaften und Verbände zum Verhältnis von Staat und Religion – u.a. in Berlin, Jerusalem, Beirut, Kairo, Washington D.C., Houston und Salt Lake City. Er ist darüber hinaus Co-Founder von inteero, einer Plattform für Online-Einrichtungsberatung. Speer hat Politikwissenschaft und Geschichte studiert und am Exzellenzcluster ‚Religion und Politik‘, am German Marshall Fund of the United States und am Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien zur politischen Regulierung von Religion geforscht.