Frau Boos-Niazy, das Aktionsbündnis muslimischer Frauen in Deutschland e.V. hat in einer Analyse aufgezeigt, wie sich die Rechtsprechung zur Befreiung vom Schwimmunterricht aus religiösen Gründen entwickelt hat. Können Sie diese Entwicklung kurz skizzieren?
Der Anlass unserer Recherche hinsichtlich der Entwicklung der Rechtsprechung zum Thema Schwimmunterricht war das Urteil des Hessischen Verwaltungsgerichtshofes vom 28. September 2012 (Az. 7 A 1590/12), nach dem eine muslimische Schülerin zur Teilnahme am koedukativen Schwimmunterricht verpflichtet ist und die Schule keinerlei Anstrengungen unternehmen oder nachweisen muss, um den Unterricht monoedukativ anzubieten. Zudem, so argumentierte das Gericht, seien leicht bekleidete Menschen auch im Alltag allgegenwärtig und ungewollte Berührungen ließen sich durch organisatorische Maßnahmen vermeiden. Damit fiel dieses Urteil deutlich anders aus als das erste höherinstanzliche Urteil zum Schwimmunterricht aus dem Jahr 1993 (BVerwG, Urteil vom 25.08.1993, Az. 6 C 8.91). Darin war zunächst die Schule verpflichtet worden, alle zumutbaren organisatorischen Maßnahmen zu ergreifen, um einen getrennten Unterricht zu ermöglichen und falls das nicht möglich ist, die Schülerin vom eigentlichen Schwimmunterricht freizustellen, denn – so die damalige Argumentation – die Berührungen durch andere und der Anblick leicht bekleideter Jungen könne man im selbstbestimmten Privatleben tatsächlich weitestgehend vermeiden. Die durch die Schulpflicht erzwungene Teilnahme am koedukativen Sportunterricht gebe der Betroffenen die freie Wahl nicht, und gerade vor einem solchen staatlichen Zwang und einem dadurch entstehenden Glaubenskonflikt solle das Grundrecht des Art. 4 Abs. 1 und 2 GG aber schützen, d.h. es müsse eine Freistellung erfolgen.
Gabriele Boos-Niazy ist eine der beiden Vorsitzenden des Aktionsbündnisses muslimischer Frauen in Deutschland e.V. Sie ist Sozialwissenschaftlerin mit zusätzlicher Islamologie-Ausbildung. Im Rahmen der Erstellung des Nationalen Integrationsplans (NIP) nahm sie an einer Arbeitsgruppe zur Verbesserung der Lebenssituation von Frauen und Mädchen mit Migrationshintergrund teil. Zu den Schwerpunkten ihrer Arbeit gehören Themen des religiösen Dialogs und des praktischen interkulturellen Alltags in der Schule.
Uns als Aktionsbündnis hat interessiert, wie diese unterschiedlichen Urteile zustande kamen: Sind z.B. im Laufe der Zeit (es gab nach 1993 immer wieder Urteile unterschiedlicher Instanzen) neue Argumente ins Feld geführt worden oder wurden althergebrachte Argumente lediglich anders gewichtet? Das Ergebnis unserer Untersuchung war, dass die Einschränkung der Religionsfreiheit der Schülerin letztendlich der Integrationsdebatte geschuldet ist, denn im Laufe der Jahre wurde die Teilnahme bzw. Nichtteilnahme am koedukativen Schwimmunterricht mit einer gelungenen oder eben gescheiterten Integration (Stichwort Parallelgesellschaft) gleichgesetzt. Dazu wurde die pädagogische Bedeutung des koedukativen Schwimmens in absurder Art und Weise überhöht. Hätte das koedukative Schwimmen tatsächlich eine solche Bedeutung, so müsste man sich fragen, wie es möglich ist, dass Generationen von Schülern, die nicht in den Genuss eines solchen Unterrichts kamen, eine zivilisierte Gesellschaft hervorbringen konnten. Und, was noch wichtiger ist: wieso sieht der Staat auch heute noch tagtäglich tatenlos dabei zu, dass einer Vielzahl von Schülern monoedukativer Schulen diese elementar notwendigen Anregungen zur Entwicklung zu einer (wie die Lehrpläne es für den koedukativen Schwimmunterricht behaupten) sittlichen, beruflich erfolgreichen, politisch sowie der Menschheit gegenüber verantwortlichen, von Ehrfurcht, Nächstenliebe, Achtung, Duldsamkeit, Rechtlichkeit und Wahrhaftigkeit geprägten Persönlichkeit, vorenthalten werden? Das Integrationsargument stammt übrigens aus einem Beschluss des Bundesverfassungsgerichts im Falle einer christlichen Familie, die die allgemeine Schulpflicht ablehnte und ihre drei Töchter jahrelang dem Unterricht fernhielt. Dass man in diesem Falle um eine Integration in die Gesellschaft fürchten muss, ist vielleicht noch nachvollziehbar, aber in allen Urteilen zum Schwimmen geht es ja allenfalls um ein paar Stunden während eines langen Schülerlebens.
So sah es 1993 auch das Bundesverwaltungsgericht: Es sei nicht zu befürchten, dass durch die Befreiung allein vom koedukativen Sportunterricht (und heute sprechen wir lediglich vom Schwimmunterricht) die Integration ausländischer Schülerinnen in Frage gestellt werde, denn sie nähmen schließlich am gesamten sonstigen Unterricht teil. Auch dränge die Befreiung sie nicht stärker in eine Außenseiterrolle, als sie entstehe, wenn sie in ungewöhnlicher Kleidung teilnehmen müssten.
Aus unserer Sicht haben wir es daher mit einer typischen Stellvertreterdiskussion zu tun – zahlreiche Einzelheiten, die das noch deutlicher machen, finden sich in der ausführlichen Stellungnahme (http://www.muslimische-frauen.de/wp-content/uploads/2012/11/Die-Entwicklung-der-Rechtsprechung-im-koedukativen-Schwimmunterricht1.pdf).
Welche Ansichten existieren zum Schwimmunterricht unter Muslimen in Deutschland?
Wir haben nie die Erfahrung gemacht, dass der Schwimmunterricht grundsätzlich abgelehnt wurde. Die Mehrheit der Muslime ist sich dessen bewusst, dass die Religion sie verpflichtet, ihren Körper in guter Verfassung zu halten und es ist unbestritten, dass sportliche Aktivitäten dazu beitragen. Hinsichtlich des Schwimmens gibt es sogar ein Hadith (Ausspruch des Propheten, Gott segne ihn und schenke ihm Heil), nach dem die Eltern dies ihren Kindern beibringen sollen. Allerdings gelten bestimmte Rahmenbedingungen, die im koedukativen Schwimmunterricht nicht vollständig erfüllt sind und das ist der Grund, warum Eltern einen Antrag auf Befreiung stellen.
Wie viele Schülerinnen, glauben Sie, würden sich vom Schwimmunterricht aus religiösen Gründen befreien lassen, wenn sie könnten?
Ich denke, dass das davon abhängt, ob der Schwimmunterricht geschlechtergemischt ist oder nicht. Wir wissen ja auch von vielen nicht-muslimischen Jugendlichen in der Pubertät, dass sie nur widerwillig am gemischten Schwimmen teilnehmen und alles Mögliche versuchen, um sich vor der einen oder anderen Stunde zu drücken. Wir sehen eine gewisse Inkonsequenz darin, dass auf der einen Seite den Jugendlichen – gerade was die Körperlichkeit angeht – stets nahe gelegt wird, auf die eigenen Bedürfnisse zu achten, sich zu nichts drängen zu lassen, auf der anderen Seite dagegen der Schwimmunterricht das Ziel zu verfolgen scheint, den Schülern und Schülerinnen in einer sensiblen Lebensphase einen bestimmten Umgang mit Körperlichkeit aufzudrängen, ohne dabei Rücksicht auf ihren individuellen Entwicklungsstand und ihre Bedürfnisse zu nehmen. Man braucht sicher kein außergewöhnliches Gedächtnis, um sich daran zu erinnern, wie es während der Pubertät mit der Gefühlslage bestellt war, angesichts einer vielleicht nicht optimalen Figur, von Pickeln geplagt oder als Junge von sexuellen Regungen ausgerechnet dann überfallen, wenn es gerade unpassend war. Daher würde ich vermuten, dass die Zahlen von muslimischen SchülerInnen, die an einem monoedukativen Schwimmunterricht nicht teilnehmen möchten, nicht signifikant höher liegen als bei nicht-muslimischen Schülern. Beim koedukativen Schwimmunterricht ist es sicherlich so, dass einige muslimische SchülerInnen den Unterricht gezwungenermaßen über sich ergehen lassen, weil sie oder ihre Eltern etwa Nachteile in anderen Fächern befürchten, wenn sie einen Antrag auf Befreiung stellen oder auch weil sie schlicht damit überfordert sind. Man sollte unserer Auffassung nach bedenken, dass dieser Zwang bei den SchülerInnen auch dazu führt, viele der Freiheitsversprechen dieser Gesellschaft nicht länger für bare Münze zu nehmen. Das richtet sicher mehr Schaden an, als wenn jemand nicht innerhalb der Schule schwimmen lernt, sondern die Möglichkeit erhält, das im außerschulischen Bereich in einem religionskonformeren Umfeld zu tun – Angebote dazu gibt es in der Regel.
In Ihrer Analyse haben Sie auch darauf hingewiesen, dass mitnichten nur muslimische Schülerinnen ohne männliche Mitschüler Schwimmunterricht in Deutschland haben. Wen betrifft das außerdem?
Laut einer Studie des Deutschen Sportbundes nehmen in Bayern über 93 % der Schüler ab der 4. Klasse an einem nach Geschlechtern getrennten Sport- oder Schwimmunterricht teil, in Baden-Württemberg sind es über 88 %, in Sachsen fast 74 %. Selbst in NRW liegen die Zahlen noch bei über 30 %. (aus: Was steht in der DSB-SPRINT-Studie?) (http://www.dosb.de/de/jugendsport/qualitaetsoffensive/schulsport/was-steht-in-der-dsb-sprint-studie-teil-1/)
Zudem gibt es bundesweit fast 170 Schulen, die monoedukativ sind, in der überwältigenden Mehrheit reine Mädchenschulen. (http://www.vbe.de/angebote/be-online/ausgabe-42011-maenner-und-frauen/koedukativ-oder-monoedukativ-unterrichten.html)
In der Diskussion wird all das gern vergessen, vor allem, weil sich bei einer Anerkennung dieser Tatsachen die Teilnahme am gemischtgeschlechtlichen Schwimmunterricht nicht mehr als Integrationsmesser instrumentalisieren lassen würde.
Wie stellt sich Ihr Aktionsbündnis die Ausgestaltung des Schwimmunterrichts vor? Und welche politischen und gesellschaftlichen Forderungen vertreten Sie darüber hinaus?
Es muss keine „Extrawurst“ für Muslime geben – das bayrische Modell könnte sicherlich auch in anderen Bundesländern ohne große Probleme umgesetzt werden, es muss nur der Wille da sein, aber daran mangelt es vielerorts leider. Wenn man das Ganze in einen größeren Rahmen stellen möchte, kann man sich natürlich auch fragen: Wie kann es sein, dass die ausnahmslose Teilnahme am koedukativen Schwimmunterricht mit dem Argument gefordert wird, Kinder müssten mit der gesellschaftlichen Wirklichkeit (und dazu gehörten nun einmal wenig bekleidete Menschen) konfrontiert werden, den gleichen Kindern andererseits aber mit dem gegenteiligen Argument Lehrerinnen mit Kopftuch vorenthalten werden? Das Kopftuchverbot dient nämlich angeblich dazu, Konflikte, die aufgrund des gesellschaftlichen Pluralismus entstehen könnten, in der Schule zu vermeiden, indem man bestimmte „Bekundungen“ verbietet – tatsächlich werden davon ausschließlich muslimische Frauen getroffen; wir haben es also mit einer Mehrfachdiskriminierung aufgrund des Geschlechts und der Religionszugehörigkeit zu tun. Muslimische SchülerInnen sehen diese Diskrepanz zwischen der Realität und politischen Schlagworten, wie z.B. der derzeit viel beschworenen Formel von der „Willkommenskultur“, sehr wohl und das bleibt nicht ohne Wirkung. Nicht nur vor diesem Hintergrund ist eine unserer Hauptforderung die Abschaffung des Kopftuchverbotes, das in acht Bundesländern für viele gut qualifizierte Frauen weit über den Schulbereich hinaus ein extremes Hindernis beim Zugang zum Arbeitsmarkt ist. Die Politik lässt verlauten, eine erfolgreiche Integration sei am effektivsten über gleiche Teilhabechancen auf dem Arbeitsmarkt zu erreichen; dem stimmen wir zu. Diese Möglichkeit vielen Frauen durch ein Kopftuchverbot vorzuenthalten und gleichzeitig die Teilnahme am gemischten Schwimmunterricht als einen Lackmustest für eine gelungene Integration zu stilisieren, ist schlicht unredlich und wird als das verstanden, was es in Wirklichkeit ist: ein Signal dafür, dass das Ausmaß der Akzeptanz und der Chance auf gleiche Teilhabe von der Bereitschaft zur Assimilation abhängt.
Frau Boos-Niazy, vielen Dank für das Gespräch