Wofür steht Säkularismus tatsächlich? Bericht über Kolloquium der Friedrich-Naumann-Stiftung

    Hochkarätige Experten aus aller Welt haben am 30.7. in Berlin über „Modelle des Säkularismus“ diskutiert. Für das Liberale Institut, den Think Tank der Friedrich-Naumann-Stiftung, führte Dr. Gérard Bökenkamp durch den Abend. Einleitend hob er hervor, dass die Bedeutung des Begriffs ’säkularer Staat‘ keinesfalls klar ist. Klärung sollte das Kolloquium bringen. Was meint Säkularismus tatsächlich? Wie sieht Säkularismus in der Praxis aus? Diese Fragen stellte er den Referenten der Veranstaltung. Ihre Ausführungen zu Frankreich, den USA und der Türkei reflektiere ich im Folgenden.

    Französischer Laizismus

    Prof. Valerie Amiraux von der Université de Montréal in Kanada hat den französischen Fall vorgestellt. Ihre zentrale These lautet: Während Laizismus in Frankreich anfangs eine Beschränkung des Staates zugunsten der Vielfalt in der Gesellschaft gewesen sei, sei er mehr und mehr zu einem Einfallstor für eine staatliche Intervention in die Gesellschaft geworden. Insbesondere die Auseinandersetzung mit dem Islam habe dazu geführt, dass laïcité zu einem zentralen Aspekt der französischen Identität geworden sei – nicht nur auf staatlicher Ebene, sondern auch auf individueller. Der Staat habe seine neutrale säkulare Haltung (laïcité plurielle) aufgegeben und sei zu einer aggressiv säkularisierenden Haltung übergegangen (laïcité de combat).

    1989 habe das höchste französische Gericht noch geurteilt, dass Schülerinnen in der Schule ein Kopftuch tragen dürfen und dies nur im Einzelfall verboten werden dürfe. 2004 jedoch sei ein Gesetz verabschiedet worden, welches das Tragen religiöser Symbole in der Schule vollständig untersagt. Insbesondere die politische Rechte in Frankreich habe Laizismus als ein neues Projekt auserkoren, um die nationale Einheit zu stärken. Der Staat sei damit zum philosophischen Emanzipatoren der Individuen geworden. Konkret äußere sich dies darin, dass Schülerinnen vor der Schule von Lehrern das Kopftuch abgenommen werde, bevor sie die Schule betreten. Zudem sei es umstritten, ob Mütter mit Kopftuch die Schulen ihrer Kinder betreten dürfen.

    Wie stark dieser aggressive Säkularismus die französische Identität prägt, zeige sich am Fall einer Marokkanerin, die die französische Staatsangehörigkeit erwerben wollte. Zum Verhängnis sei ihr alltägliches Leben geworden: Sie kümmere sich selbst um ihre Kinder, gehe mit ihrem Ehemann einkaufen und trage ein Kopftuch (wenn die Situation dafür nicht zu problematisch ist). Da habe es auch nicht geholfen, dass sie fließend Französisch gesprochen, eine staatliche Schule besucht und während der Schwangerschaft einen männlichen Frauenarzt gehabt habe. Vor französischen Gerichten sei es offenbar eine Bedingung für Integration, einen männlichen Frauenarzt zu konsultieren – eine notwendige Bedingung, aber keine hinreichende. Dass ihr Leben – abgesehen vom Kopftuch – nicht anders aussieht als das vieler nichtmuslimischer Französinnen, habe bei der Entscheidung keine Rolle gespielt.

    Amerikanische Wall of Separation

    Auch Samuel Gregg vom Acton Institute, USA, spricht für den US-amerikanischen Fall von zwei verschiedenen Bedeutungen von Säkularismus. Die ursprüngliche Form des Säkularismus der Gründerväter habe lediglich Staat und Religion als unterschiedliche Sphären zum beiderseitigen Schutze getrennt. Das habe nicht ausgeschlossen, dass der Staat das Engagement von Religionsgemeinschaften in Bereichen wie Bildung und Wohlfahrt unterstützt. Der heutige Säkularismus sei jedoch vielfach doktrinär. Der Staat ließe die Frage nach Gott nicht länger offen, sondern handele, als ob es keinen Gott gebe. Damit gehe die Neutralität verloren.

    Der Wendepunkt sei die Entscheidung des Supreme Court im Fall Everson vs. Board of Education 1947 gewesen. Seitdem sei die ‚Wall of Separation‘ neu interpretiert worden: Aus der Trennung im Sinne der Nichtparteinahme sei ein Kontaktverbot des Staates mit jeder Form der Religion geworden. Die ursprüngliche Intention der Gründerväter werde damit unterlaufen. Die Bundesregierung versuche nun regelmäßig, die Freiheit der Religionsgemeinschaften und religiösen Individuen zu beschneiden. Sie scheitere dabei aber immer öfter an Entscheidungen des Supreme Court.

    Als Ausweg schlägt Gregg einen pluralistischen Staat vor, der an die ursprüngliche Interpretation des unparteiischen säkularen Staates aus der Anfangszeit anknüpft. Der Staat müsse den Religionsgemeinschaften größeren Spielraum lassen, damit sie ihre positive Wirkung für die Gesellschaft (unter anderem die Begrenzung des Staates) entfalten könne. Religionsfreiheit könne dabei niemals grenzenlos sein, sondern dürfe die öffentliche Ordnung nicht gefährden. Gelingt dieser Wandel, komme den USA eine Vorreiterrolle zu, da sich Staaten wie Australien und Neuseeland sowie Teile Lateinamerikas in dieser Frage stark an den USA orientierten.

    Türkei: Staatliche Steuerung der Religion

    Prof. İştar Gözaydın von der türkischen Doğuş-Universität hat den Kemalismus, die türkische Form des Säkularismus, vorgestellt. Obwohl die türkische Republik einen tiefen Bruch gegenüber dem Osmanischen Reich darstelle, gebe es in der Religionspolitik starke Parallelen. Sowohl im Osmanischen Reich als auch in der Türkei sei Religion nie autonom gewesen. Der Staat sei immer der Religion übergeordnet gewesen. Die Türkei habe den staatlichen Einfluss auf die Bevölkerung jedoch deutlich ausgeweitet. Bereits das Osmanische Reich habe seine staatlichen Strukturen verwestlicht, die Republik aber habe das Projekt begonnen, die Gesellschaft zu verwestlichen – auch gegen den Willen der Bürger. Die aktuellen Vorhaben der AKP-Regierung zur Islamisierung der Gesellschaft führten diese Tradition unter anderen Vorzeichen fort. Gözaydın wünscht sich für die Türkei stattdessen ein Modell, in dem weder Religion noch Nichtreligion bevorzugt wird.

    Kommentar

    Das Kolloquium hat gezeigt, dass das Modell des säkularen Staates in der Theorie diffus ist und in der Praxis die hohen Erwartungen nicht erfüllen kann. Alle Referenten waren sich einig, dass die Neutralität des Staates entscheidend für die Freiheit seiner Bürger ist. Sowohl Amiraux als auch Gregg gehen davon aus, dass der Säkularismus in Frankreich und den USA ursprünglich neutral gewesen sei. Ich bezweifle dies, was ich bereits hier ausgeführt habe: http://offene-religionspolitik.de/the-changing-role-of-religion-in-western-states-and-societies/. Für die bestehenden Formen des Laizismus oder gar eine noch striktere Trennung von Staat und Religion sprach sich keiner der Referenten aus. Unsere Alternative zum säkularen Staat ist der Staat, der offen für die religiöse und weltanschauliche Vielfalt ist (hier ein kurzer Einstieg: http://offene-religionspolitik.de/offene-religionspolitik-vs-geschlossene-religionspolitik/). Die Diskussion zum säkularen und offenen Staat werden wir mit der Friedrich-Naumann-Stiftung am 17. August fortführen. Informationen zu der Diskussionsveranstaltung finden Sie hier: http://offene-religionspolitik.de/veranstaltung-offene-religionspolitik-in-der-praxis-17-08-berlin/.

    Dr. Sven Speer ist Vorsitzender des Forums Offene Religionspolitik (FOR) seit dessen Gründung 2011. Als Mitarbeiter und im Rahmen von Vorträgen und Gutachten berät er Regierungsorganisationen, Abgeordnete, Religionsgemeinschaften und Verbände zum Verhältnis von Staat und Religion – u.a. in Berlin, Jerusalem, Beirut, Kairo, Washington D.C., Houston und Salt Lake City. Er ist darüber hinaus Co-Founder von inteero, einer Plattform für Online-Einrichtungsberatung. Speer hat Politikwissenschaft und Geschichte studiert und am Exzellenzcluster ‚Religion und Politik‘, am German Marshall Fund of the United States und am Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien zur politischen Regulierung von Religion geforscht.