Sieben Irrtümer über den militanten „Salafismus“

    1. „Alle Islamisten und Salafisten sind gewaltbereit“

    So sehr sich die Begriffe Islamismus und Salafismus als Kennzeichen für die „bösen“ Muslime in Abgrenzung zu den „guten“ Muslimen auch eingebürgert haben mag: Nicht jeder Islamist oder Salafist ist militant. Wer sich fundamentalistisch zum Islam bekennt, kann seinen Glauben durchaus auch auf sich selbst beschränken und andere davon verschonen – was häufig genug geschieht. Wer Islamisten und Salafisten und Terroristen in einen Topf wirft, tut damit den ersten beiden Gruppen Unrecht. Das ist den meisten aber recht egal, da ihnen der Lebensstil von eben jenen vollkommen fremd ist.

    2. „Islamistische Terroristen sind tief religiös“

    In unseren stark säkularisierten westlichen Gesellschaften ist das Vorurteil sehr stark, dass islamistische Terroristen besonders religiös seien. Je religiöser ein Mensch ist, desto gefährlicher ist er für die Allgemeinheit, so lautet die gängige Formel zur Erklärung der Welt. Aber militante „Islamisten“ haben Mehdi Hasan zufolge nicht etwa das Werk Milestones des radikalen islamischen Denkers Sayyid Qutb über den Versandhändler bestellt, ja nicht einmal Osama bin Ladens Messages to the World. Nein, im Einkaufskorb von zwei kürzlich verurteilten Terroristen landete seichtere Kost: Islam for Dummies und The Koran for Dummies. Und Hasan führt weiter aus: Der Architekt des 11. Septembers, Khalid Sheikh Mohammed, flog einen Helikopter mit der Banneraufschrift „Ich liebe dich“ für seine Freundin. Sein an den Anschlägen beteiligter Neffe Ramzi Yousef wurde häufig im Rotlichtviertel gesehen. Die Liste führt Hasan weiter, hier mögen die beiden schon genügen.

    3. „Der (militante) Islamismus ist mittelalterlich“

    Der Islamismus in seiner heutigen Form ist ein Produkt der Moderne und ohne Einflüsse westlicher Totalitarismen überhaupt nicht denkbar. Das gilt für das schiitische Mullah-Regime im Iran genauso wie für die sunnitischen Muslimbrüder und andere radikale Gruppen – und für die Terrortouristen aus Deutschland noch viel mehr. Der Islam des Mittelalters war in vielen Punkten weit aufgeklärter und friedfertiger als das christliche Abendland. Im streng konservativen Europa des viktorianischen Zeitalters galt die islamische Welt als moralisch verroht, weil dort bspw. homosexuelle Handlungen weit weniger geahndet wurden als im vermeintlich fortschrittlicheren Europa. Viele Gesetze gegen Homosexualität in der islamischen Welt sind ein Erbe des europäischen Imperialismus, nicht des islamischen Mittelalters. Auch die Toleranz gegenüber Juden und Christen war weit höher als die Toleranz der christlichen Reiche gegenüber Juden und Muslimen.

    4. „Bildung hilft gegen Radikalisierung“

    Da der Islamismus als etwas Mittelalterliches gedacht wird, müsse dagegen freilich Aufklärung und Bildung helfen. Je höher der Bildungsgrad eines Menschen ist, desto weniger anfällig sei er für eine islamistische Radikalisierung. Dieses Argument passt wunderbar in eine bürgerlich-akademische Öffentlichkeit, die für alle Probleme der Gesellschaft die nichtakademischen Schichten verantwortlich macht. Tatsächlich haben die Attentäter des 11. Septembers in Deutschland technische Fächer studiert. In der Muslimbruderschaft sind ehemalige Studenten von Naturwissenschaften stark vertreten. Und Osama bin Laden entstieg als Sohn wohlhabender Saudis auch nicht dem Prekariat. Der Soziologe Atran bezeichnet die Möchtegerndschihadisten daher als „gelangweilt, unterbeschäftigt, überqualifiziert und unterfordert“ (angeführt auch von Hasan). Die Gefahr geht also nicht von Prekariat mit Migrationshintergrund aus, sondern von jenen, die aufsteigen wollen, aber aufgrund verschiedener gesellschaftlicher Rahmenbedingungen eben nicht können – Rassismus zum Beispiel.

    5. „Eine Verwissenschaftlichung des Islam beugt der Radikalisierung vor“

    Keine Frage, ich bin für die Etablierung islamischer Theologie an deutschen Universitäten. Nur stößt mich immer wieder ab, dass die Etablierung meist unter dem Vorzeichen (ob nun offen oder verdeckt) der Prävention vor Radikalisierung geschieht. Was wäre denn die logische Konsequenz daraus? Die hochreligiösen Muslime, die islamische Theologie studieren, wären militante Islamisten, wenn sie nicht durch ein Studium den wissenschaftlichen Umgang mit dem Koran lernen würden? Vermutlich geht es manchen auch nur darum, dass den muslimischen Kindern in einem ordentlichen Religionsunterricht an staatlichen Schulen die Werte des Grundgesetzes beigebracht und sie somit besser integriert würden. So hieß es zumindest in einer Pressemitteilung des hessischen Justizministeriums anlässlich der Einführung des Faches. Die Logik dieser Form der Extremismusprävention wird freilich dann brüchig, wenn man bedenkt, dass viele Islamisten gar keinen familiären Bezug zum Islam haben und innerhalb kürzester Zeit radikal und militant werden. Gegen einen Pierre Vogel hätte auch kein islamischer Religionsunterricht geholfen. Und entsprechend wenig hilft er gegen Organisation wie IS und Al Qaida, in denen der Anteil von Konvertiten erstaunlich hoch ist.

    6. „Das Kopftuch ist Ausdruck eines militanten Islamismus“

    Zweifellos, das Kopftuch ist erst nach der Revolution im Iran richtig in Mode gekommen. Heutzutage wird das Kopftuch aber aus verschiedensten Gründen getragen, in der Regel auch freiwillig. Der Befreiungsfeldzug gegen das Kopftuch und für die Rechte der Frauen führt daher zu genau dem, was eigentlich verhindert werden soll: Muslimische Frauen, die sich für das Kopftuch entscheiden, werden vom gesellschaftlichen Leben und vom Erwerbsleben weitgehend ausgeschlossen. Besonders paradox wird es, wenn an den neuen islamischen Fakultäten zwar auch viele Frauen studieren, diese aber meist nicht den Lehramtsabschluss anstreben, sondern lediglich einen religionswissenschaftlichen – weil sie davon ausgehen, dass sie mit Kopftuch nicht an staatlichen Schulen unterrichten dürfen (vielfach wohl zu Recht). Muslimische Frauen bleiben so von der Gesellschaft und dem Erwerbsleben durch gesellschaftliche und staatliche Repressionen ausgeschlossen. Dafür braucht es in Deutschland nicht einmal eine islamistische Revolution. Das besorgen bereits die Aufklärer.

    7. „Die Scharia ist blutrünstig und radikal“

    Aktuell wieder in der Diskussion ist die Scharia durch eine so genannte Scharia-Polizei, die gegen Alkohol, Glücksspiel und sexuelle Freizügigkeit vorgehen soll. Schnell kommen Assoziationen hoch, in denen vermeintlich der Scharia gemäß Dieben die Hände abgehackt werden, vermeintliche Ehebrecherinnen und Homosexuelle gesteinigt werden usw. usf. Tatsächlich gibt es diese Auslegungen der Scharia – und sie sind leider Richtschnur in zu vielen Staaten – aber eigentlich bezeichnet Scharia nichts anderes als die Gesamtheit des islamischen Rechts. Und dieses Recht kann ganz anders ausgelegt werden, was auch geschieht. Wenn nun aber Muslimen selbst von der vermeintlich aufgeklärten Mehrheitsgesellschaft immer wieder eingeimpft wird, die Scharia sei tatsächlich so blutrünstig wie von Extremisten behauptet, setzt sich dies irgendwann in den Köpfen fest. Frei nach dem Motto: Nur ein böser Muslim ist ein guter Muslim. Bei so kurz gedachter Interpretation der Scharia durch Nichtmuslime werden genau diejenigen Kräfte argumentativ unterstützt, die man doch eigentlich klein halten will.

    Fazit:

    Der vermeintlich militante Islamismus hat in vielen Punkten weder etwas mit religiösen Überzeugungen noch mit islamischer Tradition zu tun. Was für orientierungslose westliche Jugendliche (ganz egal aus welchem Elternhaus, ganz egal mit welchem Bildungsgrad) ein Mittel der Selbstfindung darstellt, ist für die Hintermänner ein Mittel zu militärischer Macht. Der Terrortourismus ist kein Relikt des Mittelalters, sondern zutiefst ein Kind unserer Zeit. Wer glaubt, die Gefahr ginge von der Religion aus, täuscht sich. Denn morgen schon können ganz andere Identitäten Mittel der Radikalisierung sein. Das zeigen zum Beispiel die separatistischen Milizen in der Ukraine. Die Wurzel des Übels ist keine tiefe Religiosität, sondern der Mangel an Chancen und Identität für viele junge Menschen im Westen. Diesen Mangel zu beheben, ist indes weniger eine Aufgabe von Religionspolitik als von Bildungs- und Wirtschaftspolitik sowie Antirassismusarbeit.

    Dr. Sven Speer ist Vorsitzender des Forums Offene Religionspolitik (FOR) seit dessen Gründung 2011. Als Mitarbeiter und im Rahmen von Vorträgen und Gutachten berät er Regierungsorganisationen, Abgeordnete, Religionsgemeinschaften und Verbände zum Verhältnis von Staat und Religion – u.a. in Berlin, Jerusalem, Beirut, Kairo, Washington D.C., Houston und Salt Lake City. Er ist darüber hinaus Co-Founder von inteero, einer Plattform für Online-Einrichtungsberatung. Speer hat Politikwissenschaft und Geschichte studiert und am Exzellenzcluster ‚Religion und Politik‘, am German Marshall Fund of the United States und am Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien zur politischen Regulierung von Religion geforscht.