Eine Trennung von Staat und Religion ist nicht neutral

    Immer wieder begegnet mir der Einwand, nur ein säkularer, von Religion vollständig getrennter Staat sei neutral. Ich bin überzeugt, diesem Schluss liegt eine fehlerhafte Vorstellung von Neutralität zugrunde. Die Wurzel des Wortes ‚neutral‘ ist das Wort ‚neutrum‘. Im Lateinischen bedeutet es erst einmal nichts weiter als ‚keines von beiden‘. Deutlich wird diese Bedeutung bei vielen Formen der Verwendung des Begriffs: Ein Neutrum ist weder männlich noch weiblich. In einem Krieg ist ein neutraler Staat unbeteiligt. Eine neutrale Lösung ist weder sauer noch basisch.

    Wie kann ein Staat neutral sein, in dem sich Religiöse an den Rand gedrängt sehen?

    Während der Begriff der Neutralität vom Ursprung her immer ein „weder noch“ kennzeichnet, ist das Wesensmerkmal des ‚neutralen Staates‘ für viele zwar seine Abkehr von der Religion, aber eben nicht seine Abkehr von der Nichtreligion. Was aber einer von zwei möglichen Optionen zugehörig ist, ist nicht mehr neutral. Es ist evident, dass ein Staat, der einer Religion oder Konfession exklusiv zugewandt ist, nicht neutral ist. Dieser Staat schränkt die Freiheitsräume seiner Bürger ein, indem nur die religiöse Option (grundsätzlich oder abgesehen von der Privatheit) möglich ist. Das Gleiche ist jedoch der Fall, wenn der Staat sich strikt von Religion trennt und damit säkular wird. Nur wenn der Staat sowohl das Säkulare wie auch das Religiöse zulässt – auch in öffentlichen Institutionen wie Schulen und Krankenhäusern – ist er tatsächlich neutral, weil nicht wertend. Wie kann ein Staat neutral sein, in dem sich Religiöse an den Rand gedrängt sehen, Nichtreligiöse aber zufrieden mit der Ordnung sind?

    Vertretern einer strikten Trennung geht es nicht um Neutralität

    Vertretern einer strikten Trennung von Staat und Religion scheint es daher nicht um Neutralität zu gehen, denn diese würde implizieren, Andersartigkeit zuzulassen und hinzunehmen. Bei ihnen versteckt sich hinter dem Begriff der Neutralität implizit eine Form von Wahrheit. Sie sind davon überzeugt, dass sich die Welt schlüssig mit einem Modell erklären lässt, das ohne religiöse Annahmen auskommt und das (potentiell) alle Menschen glücklicher macht als wenn sie religiös wären. Wer ohne Religion ist, könne sich frei entscheiden. Das Problem bei dieser Annahme ist, dass die erste Entscheidung bereits für die Menschen getroffen ist: Ihr Grundzustand sei wie der erwünschte Zustand nichtreligiös. Was davon abweicht – wer davon abweicht – ist noch nicht befreit oder verirrt. Eine derartige Vorannahme ist nicht neutral.

    Ein strikt säkularer Staat ist ein Staat, der wertet und entsprechend ausgrenzt

    Ich halte es für legitim dafür zu streiten, dass wissenschaftliches Denken und nichtreligiöses Denken in der Gesellschaft ihren Platz haben (wobei sich wissenschaftliches und religiöses Denken nicht ausschließen müssen). Wer es jedoch anderen aufzwingt oder Alternativen bewusst aus Staat und Öffentlichkeit verdrängt, ist nicht neutral. Er hat Partei ergriffen wie auch der säkulare Staat. Ein gewisses Maß an Trennung von Staat und Religion ist der Freiheit förderlich, daher habe ich für manche Vorstöße auch Sympathien. Aber wer eine vollständige Trennung von Staat und Religion fordert, sollte so redlich sein, nicht von einem neutralen Staat zu sprechen. Ein strikt säkularer Staat ist ein Staat, der wertet und entsprechend ausgrenzt. So viel Redlichkeit erwarte ich gerade von denjenigen, die sich als die Vernünftigsten in der Gesellschaft verstehen.

    Dr. Sven Speer ist Vorsitzender des Forums Offene Religionspolitik (FOR) seit dessen Gründung 2011. Als Mitarbeiter und im Rahmen von Vorträgen und Gutachten berät er Regierungsorganisationen, Abgeordnete, Religionsgemeinschaften und Verbände zum Verhältnis von Staat und Religion – u.a. in Berlin, Jerusalem, Beirut, Kairo, Washington D.C., Houston und Salt Lake City. Er ist darüber hinaus Co-Founder von inteero, einer Plattform für Online-Einrichtungsberatung. Speer hat Politikwissenschaft und Geschichte studiert und am Exzellenzcluster ‚Religion und Politik‘, am German Marshall Fund of the United States und am Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien zur politischen Regulierung von Religion geforscht.