Die falsche Forderung nach einer islamischen Einheitsorganisation

    von Sven W. Speer

    Politiker aller Couleur fordern die Monopolisierung des deutschen Islam in einer einzigen Organisation. Sie wollen damit einen einheitlichen Ansprechpartner für den Staat schaffen, der im besten Fall zur „Zivilisierung“, „Zähmung“ und „Demokratisierung“ der Muslime beitragen soll. Aber hätte eine muslimische Einheitsgemeinde tatsächlich diese Auswirkungen?

    Auch wenn Politiker die Vereinigung aller Muslime in einer einzigen Organisation einfordern, wird die organisatorische Einheit dadurch nicht realistisch. Eine vollständige Erfassung der Muslime wäre nur mit den Zwangsmitteln möglich, über die die großen Kirchen zur Zeiten der deutschen Monarchien verfügten. In einer freiheitlichen Demokratie darf es jedoch keinen Zwang zur Religion geben. Auch in anderen Religionen kann keine religiöse Organisation den Anspruch auf Alleinvertretung aufrechterhalten: Im Christentum existieren neben der römisch-katholischen Kirche und den evangelischen Landeskirchen viele weitere Kirchen: Alt-Katholiken, Freikirchen, Jehovas Zeugen, Mormonen usw. Der Zentralrat der Juden in Deutschland vertritt nicht all jene, die sich in Deutschland dem Judentum zurechnen. Im ohnehin heterogenen Islam ist eine organisatorische Einheit mindestens genauso unwahrscheinlich. Selbst wenn sich ein großer Teil der nichtorganisierten und der gemäßigten Muslime einer Einheitsorganisation anschlösse, bliebe eine Minderheit außen vor.

    Welche Auswirkungen auf den Islam hätte eine staatlich forcierte islamische Großorganisation? Einige Entwicklungen würden vermutlich ähnlich ablaufen wie in den großen christlichen Kirchen. Die religiöse Strenge der Einheitsorganisation fiele moderat aus. Durch die Ausbildung von Imamen und islamischen Religionsunterricht könnte der deutsche Staat Einfluss auf die Gestalt des Islam nehmen. Der Zekat, die Almosensteuer, die die meisten Muslime leisten, könnte analog zur Kirchensteuer direkt vom Finanzamt verrechnet werden. Eine – auch formale – Mitgliedschaft würde analog zu den christlichen Taufen schon im Kindesalter vollzogen und bedürfte keines Bekenntnisses mehr.

    Die Leistungen der zentralen Organisation und des Staates ersetzten ehrenamtliches religiöses Engagement und machten es zum Teil überflüssig. Die Finanzierung der Gemeinschaft wäre dauerhaft gesichert, die Geistlichen würden an staatlichen Universitäten ausgebildet, muslimische Wohlfahrtsverbände vom Staat und aus öffentlichen Kassen bezahlt. Das religiöse Engagement in der muslimischen Einheitsgemeinde würde sich dadurch stark verringern.

    Für gemäßigte und liberale Muslime wären die oben beschriebenen Entwicklungen akzeptabel, vielleicht sogar wünschenswert. Konservativere oder strenggläubigere Muslime jedoch fänden sich in einer derartigen muslimischen Einheitsgemeinde nicht wieder. Ihnen bliebe nur die Abspaltung in Form von eigenen Organisationen – oder natürlich von vornherein der Verbleib in strikteren Gemeinschaften. Einige der konservativen Muslime würden sich womöglich erst deshalb radikaleren Gemeinschaften anschließen, weil sie sich in den nicht etablierten, liberaleren Gemeinschaften engagieren wollten. Die radikaleren Gemeinden wären vermutlich deutlich kleiner als heutige konservative Gemeinden. Dadurch würden die Netzwerke im Inneren aber noch wesentlich enger und die Abschottung nach außen ausgeprägter.

    Ob die Etablierung einer gemäßigten islamischen Zentralinstanz zu den von vielen politischen Kräften erhofften Folgen führen würde, ist daher zweifelhaft. Zum einen ist der freiheitlich-demokratische Staat nicht in der Lage, alle Muslime in eine einzige Organisation zu zwingen. Zum anderen blieben gerade diejenigen Muslime, die unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung kritisch oder ablehnend gegenüber stehen, außen vor. Sie entzögen sich nicht nur der Kontrolle durch den Staat, sondern – weit schlimmer – auch durch ihre moderateren Glaubensbrüder und -schwestern. Die Folge einer muslimischen Einheitsorganisation wäre eine partielle Radikalisierung. Damit wäre das Ziel klar verfehlt.

    Dr. Sven Speer ist Vorsitzender des Forums Offene Religionspolitik (FOR) seit dessen Gründung 2011. Als Mitarbeiter und im Rahmen von Vorträgen und Gutachten berät er Regierungsorganisationen, Abgeordnete, Religionsgemeinschaften und Verbände zum Verhältnis von Staat und Religion – u.a. in Berlin, Jerusalem, Beirut, Kairo, Washington D.C., Houston und Salt Lake City. Er ist darüber hinaus Co-Founder von inteero, einer Plattform für Online-Einrichtungsberatung. Speer hat Politikwissenschaft und Geschichte studiert und am Exzellenzcluster ‚Religion und Politik‘, am German Marshall Fund of the United States und am Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien zur politischen Regulierung von Religion geforscht.