Warum ich als Humanist für offene Religionspolitik bin

    Immer wieder fragen mich Menschen, warum ich als Humanist, als Nichtreligiöser, für die Rechte religiöser Minderheiten eintrete – sogar für Minderheiten, die von vielen als befremdlich und sonderbar wahrgenommen werden. Einige besonders militante Atheisten werfen mir gar vor, ich würde die Gefahren unterschätzen, die von Religion ganz allgemein ausgingen. Ich als Nichtreligiöser müsse mich dafür einsetzen, so fordern sie, dass der Staat die Religion aus Politik und Öffentlichkeit verbanne.

    Meine liberale Haltung gegenüber Religionen rührt keineswegs daher, dass ich kurz davor stünde, mich einer Religion anzuschließen. Ganz im Gegenteil: Ich habe mich intensiv mit den verschiedensten Formen von Religion auseinander gesetzt und keine einzige hat mich überzeugen können. Ich glaube an keinen Gott. Aber anders als etliche andere Nichtreligiöse definiere ich mich selbst nicht über den Atheismus, darüber, dass ich gegen Gott bin. Ich sehe mich vielmehr als Humanisten, der das Menschliche betont.

    [pullquote_right]Es kommt nicht darauf an, ob Menschen religiös sind oder nicht. Es kommt darauf an, ob Menschen gut sind oder nicht. [/pullquote_right]Das heißt nicht, dass ich alles hinnehme, was Religiöse sagen oder tun. Nicht selten fühle ich mich zutiefst verletzt. So zum Beispiel am vergangenen Dienstag, als ich Gast bei einem Vortrag des Oberhauptes der orthodoxen Kirche in den USA und Kanada war. Unter dem Titel „Faith in a Consumerist Society“ hat der Erzbischof von Washington die Nichtreligiosität für all das verantwortlich gemacht, was in den westlichen Gesellschaften tatsächlich oder vermeintlich schief läuft. Mir kochte die Galle, als er Nichtreligiösen Werte und die Fähigkeit zu lieben abgesprochen hat.

    Mit einer solchen Situation gehe ich aber anders um als militante Atheisten. Fälschlicherweise werfen mir diese häufig vor, ich würde Religion zu selten kritisieren. Das ist keineswegs der Fall. Anders als viele Religionskritiker habe ich indes nicht die Integrität der Religion angegriffen, sondern klar gemacht, dass ich als Atheist für Werte stehe, Menschen liebe und ihnen freigiebig und uneigennützig helfe. In einem Saal voller amerikanischen Christen habe ich mich als „Atheist“ geoutet – einen Humanisten hätte kaum jemand einordnen können.

    Als Humanist bin ich in meinem tiefsten Inneren davon überzeugt, dass wir uns als Menschen durch freie Diskussionen weiterentwickeln, dass wir durch sie eine humanere Gesellschaft erreichen können. In meinen Augen ist es das gute Recht des Erzbischofs, seine Meinung öffentlich zu äußern. Zugleich war es mein Bedürfnis, ihm öffentlich und entschieden zu widersprechen. Niemandem darf das Recht abgesprochen werden, seine Meinung zu vertreten, nur weil jemand anders meint, er sei im Unrecht.

    Das Recht auf freie Meinungsäußerung greife ich nicht aus dem Nichts, sondern aus meiner humanistischen Überzeugung. Wir Menschen sind fehlerhaft, wir sind nicht perfekt, nicht allwissend. Wir sind nicht nur eng mit den Affen verwandt, sondern in vielen Aspekten der Biologie lediglich mutierte Fische – was allerhand körperliche Leiden nach sich zieht. Mit welchem Recht sollte sich nun ein mutierter Fisch über einen anderen mutierten Fisch erheben können? Wie hochmütig muss ein Mensch sein, einem anderen das Recht abzusprechen, sein Leben nach den eigenen Vorstellungen öffentlich zu leben und dafür zu werben? Jeder Mensch hat nur ein Leben, das nach dem Tod keine Verlängerung kennt. Gerade deshalb ist es das oberste Recht eines jeden Menschen, diese begrenzte Zeit nach seinen Vorstellungen zu leben – ganz egal, was andere von diesen halten.

    Wenn ich Fische als unsere biologischen Vorfahren anführe und die Fehlerhaftigkeit des Menschen betone, so spreche ich damit keineswegs dem Menschen die Würde ab. Ganz im Gegenteil: Ich bin stets bestrebt, das Menschliche in jedem Menschen zu erkennen, so schwer mir das im Einzelfall auch fallen mag. Manche Menschen sind schlicht und ergreifend sehr viel anders als ich. Aber ich bemühe mich; so auch im Falle des Erzbischofs von Washington. Nach der Veranstaltung hat der Erzbischof mich zu sich gebeten, mir die Hand gereicht und sich entschuldigt. Wir haben dann im Anschluss über Werte gesprochen. Es kommt nicht darauf an, ob Menschen religiös sind oder nicht. Es kommt darauf an, ob Menschen gut sind oder nicht. Darauf konnten wir uns erstaunlich schnell einigen.

    Als Humanist bin ich zutiefst davon überzeugt, dass uns als Menschen sehr viel verbindet. Gelegentlich sind wir zu zornig, um das zu erkennen. Gerade wir Nichtreligiöse, wir Atheisten und Humanisten, die wir der Vernunft einen zentralen Stellenwert zuweisen, müssen offen sein für die Gemeinsamkeiten, die wir mit den Religiösen haben. Das ist nicht gerade einfach, da Religiöse uns häufig genug ablehnend gegenüber stehen. Ich verstehe meine Aufgabe als Humanist nicht darin, Religionen Werte abzusprechen. Ich verstehe meine Aufgabe darin, religiösen Menschen zu zeigen, dass auch nichtreligiöse Menschen Werte haben. Das ist der wesentliche Impuls, warum ich das Forum Offene Religionspolitik initiiert habe. FOR dient nicht nur der Emanzipation religiöser Minderheiten. Es dient in gleicher Weise der Emanzipation der Nichtreligiösen.

    Dr. Sven Speer ist Vorsitzender des Forums Offene Religionspolitik (FOR) seit dessen Gründung 2011. Als Mitarbeiter und im Rahmen von Vorträgen und Gutachten berät er Regierungsorganisationen, Abgeordnete, Religionsgemeinschaften und Verbände zum Verhältnis von Staat und Religion – u.a. in Berlin, Jerusalem, Beirut, Kairo, Washington D.C., Houston und Salt Lake City. Er ist darüber hinaus Co-Founder von inteero, einer Plattform für Online-Einrichtungsberatung. Speer hat Politikwissenschaft und Geschichte studiert und am Exzellenzcluster ‚Religion und Politik‘, am German Marshall Fund of the United States und am Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien zur politischen Regulierung von Religion geforscht.