Pure rechte Stimmungsmache, so betitelt ‚Die Zeit‘ ihren Kommentar über Thomas de Maizières Überlegungen zur Leitkultur, die am 30.04.2017 als Gastbeitrag in der ‚Bild am Sonntag‘ erschienen. Auch in vielen anderen Veröffentlichungen, die folgten, wurde der Artikel bestenfalls mit Unverständnis quittiert. Dieses begann meist schon bei der Wahl des Begriffes ‚Leitkultur‘. Für de Maizière setzt sich Leitkultur aus dem Begriff ‚Kultur‘ und dem Verb ‚leiten‘ zusammen. Eine Deutung, der man nicht widersprechen kann. Allerdings besteht für mich eine Besonderheit der deutschen Sprache in ihren Komposita. Und deren Besonderheit wiederum ist: sie emanzipieren sich von ihren ursprünglich eigenständigen Bestandteilen insoweit, dass sie eigenständig in ihrer Wirkungsgeschichte betrachtet werden sollten. Dies gilt insbesondere auch für den Begriff Leitkultur, der in den letzten Jahren zunehmend ideologisch gebraucht wurde und in durchaus wechselvoller Weise die Integrationsdebatte in Deutschland mitbestimmte.

Dennoch störte ich mich nicht vorrangig an dem Begriff der Leitkultur, den de Maizière durchaus kritisch einführt. Zwar würde ich ihn selber nicht verwenden, in der Bewertung der Leitkulturthesen de Maizières ist er für mich aber nicht das grundlegend Problematische. Ich störte mich auch nicht an dem Versuch deutsche Leitkultur zur Diskussion zu stellen, ihre Existenz oder nicht-Existenz, ihre Notwendigkeit, oder wie sie auszusehen hat. Denn in einem stimme ich mit Thomas de Maizière überein: Menschliches Zusammenleben funktioniert auf der Grundlage ungeschriebener Regeln, wie sozial vorgegebenen Umgangsweisen und Verhaltenscodices. Ob man als Innenminister darüber einen zehn Thesen umfassenden Artikel in der Bild am Sonntag veröffentlicht und damit ein, für mich unzulässiges, statisches Verständnis jener in Erwägung zieht, ist indes eine andere Frage. Woran ich mich aber störte, waren de Maizières Überlegungen darüber, was seiner Meinung nach nicht Teil unserer Leitkultur ist.

 

Wir sind nicht Burka

Grammatikalisch mag dieser Satz richtig sein, dennoch ist er logisch fragwürdig. ‚Wir sind nicht Burka‘ ist eine Tautologie, eine Aussage, die immer wahr sein wird. Denn erstens ist ein Kollektiv, hier jenes der deutschen StaatsbürgerInnen, kein Kleidungsstück und es ist nie ein Kleidungsstück. Zweitens setzt die Aussage die Annahme voraus, dass es irgendwo auf der Welt ein Kollektiv gibt oder geben könnte, das ‚Burka ist‘. Selbst Saudi-Arabien, das einzige Land auf der Welt, wo das Kopftuch inklusive eines dazu passenden langen Kleides (Abaya) Pflicht ist, würde nicht sagen ‚Wir sind Abaya‘. De Maizières Aussage wird zum Statement für eine gemeinsame Identität in der Abgrenzung gegen die, in diesem Fall konstruierten, Anderen. Wer diese Anderen sind, bleibt offen für unterschiedliche Interpretationen. Dass auch nicht streng konservative Muslime, solche, die die Burka ablehnen, gefährdet sind eine Art Kollateralschaden dieses Statements zu werden, ist sicherlich bewusst so gewählt.

‚Wir sind nicht Burka‘ ist ein Satz aus der ersten These, in der sich de Maizière nicht mit dem Thema Religion oder religiöser Vielfalt, sondern mit sozialen Gewohnheiten beschäftigt. Bei uns sei es wichtig, so de Maizière, Gesicht zu zeigen. Ein spezifisches Exempel ist nicht notwendig. Leser und Leserin verstehen, was de Maizière mit ‚Gesicht zeigen‘ meint, denn er schreibt: „Im Alltag ist es für uns von Bedeutung, ob wir bei unseren Gesprächspartnern in ein freundliches oder ein trauriges Gesicht blicken.“ Trotzdem wählt er die politisch überhöhte und emotional aufgeheizte Debatte um die Burka, um seine Aussage zu exemplifizieren. Warum?

 

Identität durch Abgrenzung

Im Gegensatz zur ersten These beschäftigt sich These sechs explizit mit der religiösen Prägung unseres Landes, einer christlichen Prägung, laut Thomas de Maizière. Wenn Prägung bedeutet, dass über Jahrhunderte das Christentum die Religion der Mehrheit war, dass die Kirchen auf lange Tradition institutionalisierter Weltanschauung zurückblicken und als Stimme zivilgesellschaftlichen Engagements Gehör finden, ist Deutschland christlich geprägt. Für mich ist die Frage jedoch eine andere: ob religiöse Prägung exklusiv verstanden werden darf, theologisch, gesellschaftlich, politisch. Ob unsere Landschaft ausschließlich von Kirchtürmen geprägt sein soll, ob wir nur christliche Feiertage als Unterteilung des Jahres akzeptieren. Thomas de Maizières Meinung hierüber wird in den Nebensätzen deutlich, in denen er auf die Burka als Gegenbeispiel zu unseren sozialen Gewohnheiten hinweist, oder auf Ehrenmorde gegenüber unserer Zivilkultur bei der Regelung von Konflikten. Parallelen zu Parolen rechtspopulistischer Bewegungen sind nicht zu übersehen. Jene Parolen, die seit einigen Jahren vermehrt Gehör finden, greifen zurück auf die jüdisch-christliche Prägung unseres Landes.

Theologisch kann ich dabei zustimmen, jüdisch und christlich gehört religionsgeschichtlich wie dogmatisch zusammen. Was im Moment geschieht, ist aber keine theologische Reflexion über die (jüdisch-) christliche Prägung Deutschlands, egal, wie man dazu stehen würde. Der Begriff christlich wird aus der Mottenkiste politischer Instrumente hervorgeholt, um gegen eine andere Religion zu mobilisieren. Ein Muster, das man aus der Geschichte Deutschlands zu gut kennt. In jener Zeit, die de Maizière in seinem Artikel als Zeit problematischen Patriotismuses bezeichnet, diskriminierte und verfolgte die christliche Mehrheitsgesellschaft Menschen jüdischen Glaubens und verwendete die lange Geschichte theologisch legitimierter antisemitischer Einstellungen als Rechtfertigung. Der Begriff wurde heute, wohl aus pragmatischen Gründen, auf jüdisch-christlich erweitert, das Denksystem bleibt das gleiche wie damals. Religiöse Prägung als Instrument von Ausgrenzung. Ja, „Deutschland hat ein besonderes Verhältnis zum Existenzrecht Israels“. Und deshalb hat es eine besondere Verantwortung dafür, dass sich Geschichte nicht wiederholt. Dass sich rechtspopulistische Bewegungen auf eine jüdisch-christliche Vergangenheit beziehen ist anmaßend und historisch illegitim. Das Thomas de Maizière die Nähe zu eben jenen rechtspopulistischen Bewegungen nicht bewusst gewählt hat, ist unwahrscheinlich. Mit keinem Satz drückt der Innenminister eine exklusive Idee religiöser Prägung explizit aus. Indem er auf rechtspopulistische Thesen zurückgreift nimmt er diese Deutung jedoch billigend in Kauf, er bietet sie geradezu an. Wir sind christlich geprägt heißt, ‚wir sind nicht Burka‘, ‚wir sind nicht Ehrenmord‘ und einen Schritt weiter zu gehen und zu sagen ‚wir sind nicht Islam‘, erscheint plötzlich (erschreckend) einfach. Betreibt de Maizière also, um auf den Kommentar der Zeit zurückzukommen, pure rechte Stimmungsmache?

 

Gesellschaft multireligiös

Seit acht Monaten studiere ich im Libanon evangelische Theologie und Islamwissenschaften. In dem Land am Mittelmeer gibt es vier Millionen EinwohnerInnen und 18 anerkannte Religionsgemeinschaften. Der Libanon ist seit Jahrhunderten multireligiös geprägt und die Erfahrungen hier haben mich zweierlei gelehrt. Erstens, dass die kulturelle Prägung eines Landes vielleicht nicht unabhängig von Religion oder Weltanschauung zu betrachten ist, aber durchaus die Kapazität besitzt das religiös und weltanschaulich Andere zu inkludieren. Ein exklusives Religionsverständnis als Teil deutscher Leitkultur ist historisch problematisch, theologisch diskussionswürdig und es ist, zeigt nicht nur das Beispiel Libanon, gesellschaftspolitisch nicht notwendig.

Der zweite Punkt dreht sich um das Verhältnis von Religion und Macht. Zu oft wird im Libanon beides vermischt und diese Erfahrung hat auch Europa über Jahrhunderte gemacht. Seit der Unabhängigkeit arbeitet das politische System nach religiösem Proporz: der Präsident muss maronitischer Christ, der Ministerpräsident Sunnit und der Parlamentssprecher Schiit sein. Fünfzehn Jahre, zwischen 1975 und 1990, kämpften religiöse Milizen einen chaotischen Machtkampf. Dieser Machtkampf zwischen den Religionen ist nicht überwunden. Zuletzt war die Stelle des Präsidenten zweieinhalb Jahre vakant, weil sich die christlichen Parteien untereinander nicht einigen konnten, aber auch traditionelle Koalitionen mit anderen nach religiöser Zugehörigkeit organisierten Parteien ins Wanken geraten waren.

Im Deutschland des 21. Jahrhunderts hat Politik die Chance, sie hat die Verantwortung, tendenziöse Äußerungen über Religion und Weltanschauung aus dem politischen Spektrum herauszuhalten. Der Staat hat neutral gegenüber unterschiedlichen Weltanschauungen zu agieren. Thomas de Maizière spricht mit politischer Stimme und alle deutschen StaatsbürgerInnen hören zu. StaatsbürgerInnen, die nicht(mehr) wissen, warum Weihnachten oder Ostern gefeiert wird und solche, die weder Weihnachten noch Ostern feiern. Die Gesellschaft wird pluralistischer. Das darf sie und das ist gut so. Dem entgegen zu treten, indem man plakative Symbole einer bestimmten Religion nutzt, um die eigene Leitkultur zu bestimmen, ist für mich nicht rechte Stimmungsmache, es ist mehr. Es zeigt, wie schwach die Idee der eigenen Leitkultur ist. Wer seine eigene Identität nicht anders bestimmen kann als in der Abgrenzung, die er mithilfe überzeichneter Bilder legitimiert, hat eine respektvolle Begegnung mit dem weltanschaulich Andersdenkenden schon verspielt. Und genau dann, wird Integration nicht gelingen, heute und in Zukunft.

 

Maximiliane Rink studiert Evangelische Theologie auf Kirchenexamen und Nah- und Mitteloststudien auf Bachelor in München, Marburg und Beirut. Innerhalb ihres Studiums legt sie einen besonderen Schwerpunkt auf die Auseinandersetzung mit systematischen Fragestellungen, die sich aus dem Zusammenleben einer weltanschaulich pluralen Gesellschaft ergeben. Für das Forum Offene Religionspolitik ist sie als Research Assistent tätig.