Grundrechte siegen über pauschales Kopftuchverbot – Kopftuch wird zum Symbol der Freiheit

    Das Bundesverfassungsgericht wird heute das pauschale Verbot des Kopftuchs bei Lehrerinnen kippen. Grund für die erneute Befassung des Gerichts mit der Kopftuchfrage war die Klage von zwei Lehrerinnen in Nordrhein-Westfalen, die im Unterricht Kopftuch oder eine andere Kopfbedeckung aus religiösen Gründen trugen.

    Restriktive Verbote in den Bundesländern vor dem Aus

    Durch die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts steht nun das restriktive Verbot in vielen westdeutschen Bundesländern und Berlin vor dem Aus. Obwohl keines der Gesetze das Kopftuch ausdrücklich adressiert, ist in der Rechtspraxis doch klar, dass es sich bei den verbotenen Symbolen, die sich gegen die Werte der Verfassung richten, eben um islamische handelt. Nur Berlin verbietet seinen Lehrkräften religiöse Symbole aller Religionen.

    Künftig können religiöse Symbole wohl nur im Einzelfall verboten werden. Es reicht also nicht mehr, wenn der Staat vor den Kopf schaut, er muss auch in den Kopf schauen. Das ist nicht nur ein Sieg für Musliminnen in unserem Land, die ein Kopftuch tragen, sondern auch für alle Frauen. Der Staat muss sich ein gutes Stück weit davon verabschieden, Frauen Bekleidungsvorschriften zu machen.

    Großteil der Kopftücher in Europa wird aus freien Stücken getragen

    Die Vorstellung, das Kopftuch sei ein Symbol der Unterdrückung, kann in Europa nicht überzeugen. Zwar gibt es immer wieder Fälle, in denen eine Frau gezwungen wird, das Kopftuch zu tragen, aber ein Großteil derjenigen Musliminnen, die Kopftuch tragen, tut dies aus freien Stücken. Es ist ein gewaltiger Unterschied, ob Saudi-Arabien und Iran Frauen verbieten, sich nicht zu verschleiern oder Frauen in Europa auf ihr individuelles Grundrecht beharren, ein Kopftuch tragen zu dürfen.

    Gänzlich kontraproduktiv für Frauenrechte wird ein Kopftuchverbot bei Lehrerinnen. Diese könnten ohne Hochschulstudium gar nicht in das Lehramt eintreten. Wir erleben bis dato Frauen, die einem Bildungsideal nacheifern, das vielen in der Gesellschaft als vollkommen antiislamisch erscheint, weil sie den Islam mit Barbarei und Rückständigkeit identifizieren. Diesen studierten Frauen verwehrt der Staat aber bislang vielerorts aufgrund des Kopftuchverbots den Eintritt ins Lehramt, so dass sie tatsächlich gezwungen sind, sich um die Familie zu kümmern – und bestätigen dadurch die gegen den Islam gehegten Vorurteile einer traditionellen Rollenverteilung. Das liegt auch daran, dass die Perspektiven mit Kopftuch in der Privatwirtschaft kaum besser sind. Der Staat ist mit seiner systematischen Diskriminierung ein schlechtes Vorbild.

    Das Kopftuch einer Lehrerin versinnbildlicht Vielfalt und Freiheit

    Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts wird hoffentlich mehr kopftuchtragenden Lehrerinnen ermöglichen, im Schuldienst tätig zu sein. Dadurch wird zum einen die Vielfalt in unserer Gesellschaft sichtbar, so dass ein Umgang mit ihr bereits in der Schule eingeübt werden kann. Zum anderen wird auch klar, dass ein Kopftuch nicht viel über die Gedankenwelt einer Muslimin aussagt. Ich kenne viele Musliminnen, die sich unablässig für die individuelle Freiheit aller Menschen einsetzen – gerade weil sie wissen, wie es ist, aufgrund eines äußeren Merkmals oder einer inneren Haltung diskriminiert zu werden. So wird das Kopftuch zum Symbol der Freiheit. Und das nur, weil es vorher verboten war.

    Foto(c): stokpic/Pixabay

    Dr. Sven Speer ist Vorsitzender des Forums Offene Religionspolitik (FOR) seit dessen Gründung 2011. Als Mitarbeiter und im Rahmen von Vorträgen und Gutachten berät er Regierungsorganisationen, Abgeordnete, Religionsgemeinschaften und Verbände zum Verhältnis von Staat und Religion – u.a. in Berlin, Jerusalem, Beirut, Kairo, Washington D.C., Houston und Salt Lake City. Er ist darüber hinaus Co-Founder von inteero, einer Plattform für Online-Einrichtungsberatung. Speer hat Politikwissenschaft und Geschichte studiert und am Exzellenzcluster ‚Religion und Politik‘, am German Marshall Fund of the United States und am Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien zur politischen Regulierung von Religion geforscht.