Ethikunterricht: Das notwendige Übel

    Das Oberverwaltungsgericht in Leipzig entscheidet heute darüber, ob Schüler und ihre Eltern Anspruch auf Ethikunterricht ab der 1. Klasse haben. Der Entscheidung sehe ich gespannt, aber mit gemischten Erwartungen entgegen. Ich hoffe, dass das Bundesverwaltungsgericht so entscheidet, dass Ethikunterricht überall dort angeboten werden muss, wo es eine Nachfrage gibt. Ich hoffe aber ebenso darauf, dass das Gericht diese Vorgabe nicht mit einem Anspruch auf „ethisch-moralische Bildung“ durch den Staat begründet – wie von der Klägerin ausgeführt.

    Der Ethikunterricht ist aus meiner Sicht ein notwendiges Übel. Notwendig ist er, weil Kirchen und andere Religionsgemeinschaften das grundgesetzlich verbriefte Recht haben, Religionsunterricht zu erteilen. Das begrüße ich, da Schule kein religionsfreier Raum sein darf und über Religion nicht neutral gesprochen werden kann. Jeder von uns hat einen eigenen Standpunkt und eine eigene Perspektive. Wir können nicht alle Traditionen gleichermaßen offen präsentieren (das kann auch ich bspw. nicht). Da ist es nur recht und billig, wenn jeder seine eigene vertreten kann.

    Wer sich dem Religionsunterricht entziehen möchte, muss eine Alternative wählen können. Wenn es keine Alternative gibt, wirken gerade in jungen Jahren Anreizstrukturen, die zu einem Besuch des Religionsunterrichts wider Willen führen. Diese Tendenz wird besonders deutlich, wenn wir uns vor Augen führen, dass der Ethikunterricht anders als der Religionsunterricht meist zuerst in den oberen Jahrgängen angeboten wird. Wer nicht am Religionsunterricht teilnimmt, hat so keine Freistunde mehr, sondern sitzt trotzdem in der Schule. Sinnvoller wäre es, Ethikunterricht nur bis zur Religionsmündigkeit oder aber die gesamte Schulzeit hindurch anzubieten.

    Der Ethikunterricht ist aber nicht nur notwendig, sondern auch übel. Übel ist er, weil auch in ihm nur schwer neutral über die verschiedenen Religionen und Weltanschauungen berichtet und gelernt werden kann. Wenn ein Ethikunterricht hingegen vollständig in den Dienst einer Religion oder Weltanschauung gestellt wird, wird er sogar gefährlich. Tendenzen, im Ethikunterricht schwerpunktmäßig religiös-christliche oder atheistisch-philosophische Ansätze zu unterrichten, untergraben das Neutralitätsgebot des Staates. Ethikunterricht muss gleichberechtigt über die verschiedenen Angebote der Sinnstiftung informieren.

    Wer einen dezidiert nichtreligiösen Unterricht will, sollte die Angebote bspw. des Humanistischen Verbandes für eine humanistische Lebenskunde, also quasi einen nichtreligiösen Religionsunterricht, unterstützen. Nur ein solcher Weltanschauungsunterricht kann und darf tatsächlich nichtreligiöse Inhalte an die Schüler vermitteln – aber eben nur an solche, die genau dieses Angebot wählen. Die Einführung humanistischer Lebenskunde wird jedoch von vielen Bundesländern blockiert. Wiederholt scheiterten die Humanisten bspw. in Nordrhein-Westfalen.

    Das beste Angebot für Religons-, Weltanschauungs- und Ethikunterricht wäre, wenn die verschiedenen Angebote in einem Wahlbereich oder Wahlpflichtbereich angeboten würden. Wahlfreiheit sichert die Offenheit des Staates und die Möglichkeit der Schüler, sich umfassend zu informieren und ein eigenes Bild zu machen.

    Bild: Tim Reckmann  / pixelio.de

    Dr. Sven Speer ist Vorsitzender des Forums Offene Religionspolitik (FOR) seit dessen Gründung 2011. Als Mitarbeiter und im Rahmen von Vorträgen und Gutachten berät er Regierungsorganisationen, Abgeordnete, Religionsgemeinschaften und Verbände zum Verhältnis von Staat und Religion – u.a. in Berlin, Jerusalem, Beirut, Kairo, Washington D.C., Houston und Salt Lake City. Er ist darüber hinaus Co-Founder von inteero, einer Plattform für Online-Einrichtungsberatung. Speer hat Politikwissenschaft und Geschichte studiert und am Exzellenzcluster ‚Religion und Politik‘, am German Marshall Fund of the United States und am Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien zur politischen Regulierung von Religion geforscht.