Herr Prof. Traunmüller, Sie haben kürzlich untersucht, wie sich die Religionspolitik der EU-Mitgliedsstaaten von 1990 bis 2011 entwickelt hat. Gibt es angesichts ähnlicher Veränderungen der Gesellschaften wie Säkularisierung und Pluralisierung auch ähnliche Trends in der Religionspolitik? Lässt sich vielleicht sogar ein Trend zu einer stärkeren Gleichbehandlung aller Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften feststellen?
Über die Frage wie die Staaten Europas auf den religionsdemographischen Wandel politisch reagieren, gibt es unterschiedliche Auffassungen. Auf der einen Seite wird argumentiert, dass sich die Staaten in ihrem Umgang mit religiöser Vielfalt in der Tat zunehmend ähneln und auf ein gemeinsames europäisches Modell der Religionspolitik zusteuern. Das liberale Prinzip der Gleichbehandlung aller Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften ist dabei zentral und wird ja auch von allen Staaten qua Verfassung oder Einbindung in den europäischen Rechtsrahmen anerkannt. Auf der anderen Seite wird aber darauf verwiesen, dass in der politischen Praxis – etwa im Umgang mit den muslimischen Gemeinschaften – zum Teil erhebliche Länderunterschiede bestehen und die Religionspolitik der einzelnen Staaten vor dem Hintergrund der jeweils historisch gewachsenen Verflechtung von Staat und Religion zu verstehen ist.
In meiner Untersuchung von rund 30 europäischen Staaten habe ich versucht mich darauf zu konzentrieren, was diese religionspolitisch wirklich tun und konnte feststellen, dass sie jenseits ihres abstrakten Bekenntnisses zum religiösen Neutralitätsgebot weder ähnlicher noch liberaler geworden sind. Tatsächlich ist genau das Gegenteil der Fall. Die Unterschiede in der Religionspolitik sind heute sogar größer als sie es noch vor zwanzig Jahren waren. Und auch die staatliche religiöse Diskriminierung ist in Europa in den letzten Jahren insgesamt angestiegen. Man darf dabei natürlich nicht übersehen, dass Europa global gesehen in dieser Hinsicht immer noch sehr moderat ist. Dennoch gibt es sowohl im Niveau als auch in der Entwicklung staatlicher Diskriminierung religiöser Minderheiten deutliche Länderunterschiede in Europa. Deutschland etwa gehört zu den Staaten mit eher restriktivem Umgang mit religiösen Minderheitsgruppen, auch wenn eine leichte Besserung über die letzten Jahre beobachtbar ist.
Richard Traunmüller ist seit 2014 Juniorprofessor für Empirische Demokratieforschung an der Goethe-Universität Frankfurt. Davor war er in Lehre und Forschung an den Universitäten Konstanz, Bern und Mannheim sowie an der University of Essex tätig. Seine Arbeit widmet sich der empirisch-analytischen Erforschung des komplexen Zusammenhangs von Religion, Zivilgesellschaft und Politik. Für einen Artikel zum Thema Religion und Sozialkapital wurde er 2011 mit dem SOEP-Preis des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung ausgezeichnet.
Gemeinsam mit Marc Helbling vom Wissenschaftszentrum Berlin gehen Sie der Frage nach, welche Auswirkungen die staatliche Unterstützung für Religion auf die Einstellungen gegenüber Muslimen hat. Zu welchen Ergebnissen sind Sie dabei gekommen?
Um dieser Frage nachzugehen haben wir uns den Fall Schweiz – gewissermaßen als „Labor“ für ganz Europa – genauer angesehen. Die Schweiz ist ja insbesondere durch die umstrittene Minarett-Initiative aufgefallen, bei der sich in einer direktdemokratischen Abstimmung eine Mehrheit der Bevölkerung für ein Verbot des Baus von Minaretten ausgesprochen hat. Für uns ist aber besonders bedeutsam, dass die Schweiz mit ihren 26 Kantonen intern eigentlich eine große Vielfalt hinsichtlich ihrer Religionspolitik aufweist und insbesondere die staatliche Unterstützung von Religion von Kanton zu Kanton ganz unterschiedlich ausfällt. Das gibt uns die Möglichkeit auf engem Raum und quasi unter kontrollierten Bedingungen verschiedene Formen der Religionspolitik auf ihre Konsequenzen für das soziale Miteinander hin zu untersuchen.
Unsere ersten Ergebnisse zeigen, dass die Art und Weise wie die staatliche Förderung von Religion gestaltet ist tatsächlich in einem engen Zusammenhang mit den Einstellungen der Bevölkerung steht. In Kantonen in denen die traditionelle christliche Kulturidentität staatlich unterstützt wird, sind die Leute in Umfragen eher der Meinung, es gebe zu viele muslimische Einwanderer im Land. Sie vertreten auch eher die Ansicht, dass Muslime nicht das Recht haben sollten Minarette zu bauen. Bei der Meinung zum öffentlichen Tragen des Kopftuchs zeigt sich ebenfalls diese Tendenz.
Interessant ist dabei insbesondere, dass diese Wirkung vor allem von den symbolisch-kulturellen Aspekten der staatlichen Unterstützung – d.h. gesetzlichen religiösen Feiertagen, Religionsunterricht an staatlichen Schulen oder auch religiösen Symbolen auf den kantonalen Flaggen – ausgeht oder von für die Bevölkerung spürbaren Regelungen wie etwa der Kirchensteuer. Wir erklären uns das so, dass unter den Bedingungen einer starken religiös-kulturellen Durchdringung des öffentlichen Lebens religiöse Neuankömmlinge eher als Bedrohung für die eigene Tradition und Lebensweise wahrgenommen werden. Ein religionspolitisches Entgegenkommen zugunsten der muslimischen Minderheit bedeutet dann immer auch ein Stück weit die Aufgabe der eigenen Privilegien und Gewohnheiten. In Kontexten in denen Staat und Religion klarer getrennt sind gibt es demgegenüber weniger zu verlieren. In der Folge werden Muslime weniger als Konkurrenten wahrgenommen und ihnen auch eher Rechte zugestanden. Übrigens scheint es sich dabei jeweils um einen breiten kulturellen Konsens innerhalb der Bevölkerung zu handeln, denn religiöse und säkulare Bürger unterscheiden sich hierbei in ihren Einstellungen gegenüber Muslimen überhaupt nicht.
Im Rahmen einer größeren Studie haben Sie verschiedene Indizes verglichen, die das Verhältnis von Staat, Kirche und Religion quantifizieren. Weisen diese Indizes lediglich eine Achse „Trennung vs. Verflechtung von Staat und Religion“ auf oder existiert auch ein Index, der die Ungleichbehandlung von Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften in der Kooperation mit den Staaten erfasst, wie das Forum Offene Religionspolitik sie kritisiert?
Den Index zur staatlichen Unterstützung von Religion, den wir in der oben genannten Studie zur Schweiz benutzen unterscheidet von seiner Konzeption her nicht explizit zwischen den einzelnen Religions- und Weltanschauungsgruppen. Das Religion and the State Project von Jonathan Fox aus dem dieser Index stammt stellt aber auch einen eigenen Diskriminierungsindex bereit, der sich ausdrücklich auf die Ungleichbehandlung religiöser Minderheiten bezieht. Allerdings werden hierbei nur die staatlichen Restriktionen für die religiöse Praxis von Minderheitengruppen berücksichtigt und nicht die Diskriminierung in der staatlichen Unterstützung und Kooperation, wie Sie das im Forum Offene Religionspolitik im Blick haben. Die Idee einer ungleichen Bevorzugung kann am ehesten der Government Favoritism of Religion Index der beiden Soziologen Brian Grim und Roger Finke abbilden. Dieses Messinstrument bündelt fünf verschiedene Bereiche der staatlichen Förderung von Religion und berücksichtigt dabei jeweils, ob diese allen, einigen oder nur einer einzigen Religionsgruppe zugute kommt.
Und wie schneidet Deutschland im internationalen Vergleich ab?
Im Jahr 2008, dem letzten verfügbaren Messpunkt, wies Deutschland einen Indexwert von 7,3 auf, was durchaus auf ein beträchtliches Ausmaß an staatlicher Ungleichbehandlung der einzelnen Religionen hindeutet. Der Governemt Favoritism of Religion Index reicht nämlich nur von 0 bis 10, wobei höhere Werte eine höhere Ungleichbehandlung in der staatlichen Förderung und Finanzierung von Religion anzeigen. Um das vielleicht in den globalen Kontext zu stellen: Die USA, Japan oder Südafrika weisen in der staatlichen Bevorzugung einzelner Religionen einen Wert von null auf. Am anderen Extrem sind Länder wie Saudi-Arabien oder Pakistan angesiedelt, die Indexwerte in der Größenordnung von 9,3 oder sogar 10 erreichen. Beschränkt man den Vergleich auf Westeuropa so liegt Deutschland im oberen Mittelfeld. Die Ungleichbehandlung der Religionen ist hier höher als etwa in Schweden (1,8) oder den Niederlanden (5,6) aber beispielsweise niedriger als im Vereinigten Königreich (7,9) oder in Dänemark (8,1).
Einen Schwerpunkt Ihrer Arbeit bildet die Erforschung von Sozialkapital. Da sich das Forum Offene Religionspolitik für Vielfalt einsetzt, stellt sich uns die Frage: Erhöht Vielfalt das Sozialkapital in einer Gesellschaft oder ist Vielfalt eine Gefahr für Vertrauen und Zusammenhalt?
Studien zu dieser Frage stellen inzwischen eine eigene kleine Industrie dar. Das ist auch verständlich, denn sie stellt moderne liberale Gesellschaften vor ein gewisses Dilemma. Auf der einen Seite wird kulturelle Vielfalt zu Recht als gesellschaftliche Chance und Bereicherung verstanden. Auf der anderen Seite wäre es jedoch naiv zu verleugnen, dass zunehmende kulturelle Vielfalt nicht auch reales Konfliktpotential birgt und den sozialen Zusammenhalt auf die Probe stellt. So ist es nicht verwunderlich, dass auch die Ergebnisse zahlreicher Studien insgesamt ambivalent ausfallen. Während eine Reihe dieser Ergebnisse kulturelle Vielfalt tatsächlich mit negativen Konsequenzen in Verbindung bringt, können andere dies so nicht bestätigen.
Was mich an der Debatte überrascht hat, ist die Tatsache dass die allermeisten Studien zum Thema kulturelle Vielfalt und Sozialkapital die spezifisch europäische Herausforderung des wachsenden religiösen Pluralismus ignorieren. In meiner Arbeit habe ich mir daher den Zusammenhang von religiöser Vielfalt und sozialem Vertrauen sowohl in Deutschland als auch im internationalen Vergleich einmal genauer angesehen. Dabei zeigt sich, dass der religiöse Pluralismus in Deutschland den sozialen Zusammenhalt gemessen am Vertrauen der Menschen bislang nicht beeinträchtigt.
Das heißt aber nicht, dass die religiöse Zusammensetzung einer Gesellschaft ohne Bedeutung für die Vertrauensbeziehungen der in ihr lebenden Menschen wäre. Im Ländervergleich zeigen sich hier sehr klare Zusammenhänge. So ist beispielsweise das Ausmaß an „brückenbildendem“ Sozialkapital – also Vertrauensbeziehungen zwischen Angehörigen unterschiedlicher Religionen – ganz klar vom Grad des religiösen Pluralismus einer Gesellschaft abhängig. Je höher die religiöse Vielfalt, desto wahrscheinlicher ist es, dass die Menschen in ihrem Alltag, ob am Arbeitsplatz oder in der Freizeit, inter-religiöse Kontakte haben. Problematisch für den sozialen Zusammenhalt sind demgegenüber vor allem Konstellationen in denen sich religiöse Differenzen und ökonomische Ungleichheit wechselseitig verstärken. Unter solchen gesellschaftlichen Bedingungen vertrauen die Menschen vermehrt nur ihrer eigenen Religionsgruppe, während sie anderen Mitmenschen eher misstrauisch begegnen. Mit anderen Worten kommt es für die Frage inwieweit religiöse Vielfalt eine Bereicherung oder eine Gefahr für den sozialen Zusammenhalt darstellt ganz auf ihre konkrete Ausprägung an.
Herr Prof. Traunmüller, vielen Dank für das Gespräch.