„Gläserne Wände“: Lesenswerter Bericht über die Benachteiligung Nichtreligiöser

    Gläserne Wände Humanistischer Verband

    Michael Bauer und Arik Platzek legen für den Humanistischen Verband Deutschland (HVD) den Bericht „Gläserne Wände – Bericht zur Benachteiligung nichtreligiöser Menschen in Deutschland“ vor, der am 17. September 2015 erscheint. Der Bericht ist beispiellos und stellt auf fast 100 Seiten übersichtlich und ansprechend dar, wie Nichtreligiöse (außerhalb der Kirchen, wie der Bericht einschränkt, S. 4) in Deutschland diskriminiert werden. Für viele wird der Bericht erst einmal überraschend sein: Diskriminierung Nichtreligiöser in Deutschland? Leben wir nicht in einer säkularisierten Gesellschaft in einem säkularen Staat? Der Mythos der Trennung von Religion auf der einen, Gesellschaft und Staat auf der anderen Seite in Deutschland hält sich zwar hartnäckig, ist aber dennoch nicht wahr.[1]

    Statt Entrechtung der Religiösen ist das Ziel des Berichts eine Gleichberechtigung der Nichtreligiösen

    Für manch einen, der die atheistische und humanistische Szene in Deutschland kennt, drängt sich darüber hinaus eine ganz andere Frage auf. Sie fragen sich vielleicht: Haben wir es hier mit den ewigen Kritikern zu tun? Wer Vorbehalte hat, der mag beruhigt sein: Der Bericht ist kein „Violettbuch Kirchenfinanzen. Wie der Staat die Kirchen finanziert“, keine „Kriminalgeschichte des Christentums“ in zehn Bänden, und erst recht kein „Der Herr ist kein Hirte. Wie Religion die Welt vergiftet“. Es geht den Autoren nach eigenem Bekunden nicht darum, „Rechte und Möglichkeiten religiöser Bürger und ihrer Vereinigungen“ abzuschaffen. Sie führen aus: „Oft wird die Gleichstellung von nichtreligiösen Menschen erst dann sinnvoll erreicht, wenn allen Bürgern gleiche Rechte auch faktisch zugestanden werden“ (S. 11.). Statt Entrechtung der Religiösen ist das Ziel des Berichts eine Gleichberechtigung der Nichtreligiösen.

    Die Liste der Diskriminierungen, die der Bericht anführt, ist lang. In dieser taucht bekannte Kritik auf: Im Arbeitsleben sind Nichtreligiöse faktisch eingeschränkt, da karitative Einrichtungen in kirchlicher Trägerschaft den Tendenzschutz genießen und Mitarbeiter gemäß ihrer privaten Lebensführung einstellen und entlassen können. Der staatliche Kirchensteuereinzug offenbart die Kirchen(nicht)mitgliedschaft auf der Lohnsteuerkarte gegenüber dem Arbeitgeber. Mehrere Bundesländer haben „Ehrfurcht vor Gott“ oder „Gottesfurcht“ als erstes Erziehungsziel in ihren Schulgesetzen verankert. Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen unterhalten staatliche Konfessionsschulen. In Bayern hängt per Gesetz ein Kruzifix in jedem Unterrichtsraum.

    Das wirklich Neue an dem Bericht ist, dass er aufzeigt, wie Nichtreligiöse, insbesondere Weltanschauungsgemeinschaften, in gleicher Weise mit dem Staat kooperieren können wie die etablierten Kirchen. So wird ein Dialogforum auf Bundesebene gefordert: entweder eine Konfessionsfreien-Konferenz wie vom Koordinierungsrat säkularer Organisationen (KORSO) vorgeschlagen oder eine Deutsche Konferenz für Religion und Weltanschauung, wie vom FOR vorgeschlagen. Wie mit den Kirchen, jüdischen Verbänden und inzwischen auch muslimischen Verbänden sollen die Bundesländer mit den nichtreligiösen Weltanschauungsgemeinschaften Verträge abschließen. Humanistische Lebenskunde soll analog zum Religionsunterricht an allen öffentlichen Schulen angeboten werden können. Lehrstühle für Geschichte und Theorie des weltanschaulichen Humanismus sollen eingerichtet werden, wie es diese inzwischen nicht nur für die großen Kirchen, sondern auch für Juden, Muslime, Altkatholiken, Orthodoxe und Aleviten gibt.

    „Gläserne Wände“ ist zweifellos ein bedeutender Beitrag für die religionspolitische Diskussion in Deutschland, die in den letzten Jahren viel zu sehr ausschließlich auf den Islam fixiert war

    In der gebotenen Kürze lässt sich nicht alles wiedergeben, was die Autoren kritisieren und welche Lösungen sie vorschlagen. Das ist auch nicht nötig. Der Bericht ist auch für Laien verständlich geschrieben und mit zahlreichen Bildern und Grafiken ansprechend und übersichtlich gestaltet. Vor zwei Jahren habe ich 24 Punkte genannt, wie Offene Religionspolitik Nichtreligiösen nützt. Der Bericht des HVD bringt es auf 33 Reformvorschläge. Auch wenn die Listen nicht deckungsgleich sind, gibt es zahlreiche Überschneidungen. „Gläserne Wände“ ist zweifellos ein bedeutender Beitrag für die religionspolitische Diskussion in Deutschland, die in den letzten Jahren viel zu sehr ausschließlich auf den Islam fixiert war – und was auch für die Muslime oftmals nicht hilfreich war. Ich hoffe, der Bericht führt dazu, dass die religiös-weltanschauliche Vielfalt in Deutschland in ihrer Gesamtheit in den Blick genommen wird.

    „Gläserne Wände“ ist eine lohnende Lektüre für alle religionspolitisch Interessierten gleich welchen Bekenntnisses. Für die politisch Verantwortlichen ist sie Pflichtlektüre – der eilige Leser in der Politik mag sich mit der Zusammenfassung der 33 Forderungen auf den Seiten 80 bis 83 begnügen. Aber auch Vertreter anderer Religionsgemeinschaften finden in dem Bericht zahlreiche Anregungen, wie sie ihre eigenen Benachteiligungen in Deutschland erkennen, benennen und beheben können.

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    [1] Sven Speer, The Role of Religion in Society and Politics in Europe, or: Three Myths of Secularity in Europe, in: Bridging the Gap. An Arab-European Dialogue on the Basics of Liberalism, hrsg. v. Roland Meinardus, Kairo 2014, 109–119.

    Dr. Sven Speer
    Dr. Sven Speer ist Vorsitzender des Forums Offene Religionspolitik (FOR) seit dessen Gründung 2011. Als Mitarbeiter und im Rahmen von Vorträgen und Gutachten berät er Regierungsorganisationen, Abgeordnete, Religionsgemeinschaften und Verbände zum Verhältnis von Staat und Religion – u.a. in Berlin, Jerusalem, Beirut, Kairo, Washington D.C., Houston und Salt Lake City. Er ist darüber hinaus Co-Founder von inteero, einer Plattform für Online-Einrichtungsberatung. Speer hat Politikwissenschaft und Geschichte studiert und am Exzellenzcluster ‚Religion und Politik‘, am German Marshall Fund of the United States und am Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien zur politischen Regulierung von Religion geforscht.