Selbstbestimmung und Fremdbestimmung im Arbeitsrecht der Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften

    Zu Volker Becks Thesen

    Volker Beck, Sprecher für Innen- und Religionspolitik der Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen, hat kürzlich Thesen zum kirchlichen Arbeitsrecht vorgestellt. Diese sollen als Reformüberlegungen für die Kommission „Weltanschauungen, Religionsgemeinschaften und Staat“ beim Bundesvorstand von Bündnis 90/Die Grünen dienen. Sie lohnen einen eingehenderen Blick, verdienen gleichwohl Kritik.

    Becks Themen und Thesen sind folgende:

    1. Die Loyalitätspflichten (korrekt: -obliegenheiten) „außerhalb der Verkündigung“ seien unverhältnismäßig und durch Änderung des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes (AGG) und der Antidiskriminierungsrichtlinie zu beseitigen.
    2. Die Zahl kirchlicher Einrichtungen, die dem Tendenzschutz unterliegen, sei am Anteil der jeweiligen Konfession in der Bevölkerung zu orientieren.
    3. Der Dritte Weg verliere bei Werkverträgen, Leiharbeit und Lohndumping seine Berechtigung.

    I. Loyalitätspflichten

    Beck unterscheidet zwischen Loyalitätspflichten innerhalb und außerhalb der Verkündigung. Dahinter steht die Überlegung, dass nicht jede Tätigkeit überhaupt Anteil und nicht jede Tätigkeit gleichen Anteil am Verkündigungsauftrag einer Religionsgemeinschaft habe. Ein Geistlicher sei am Verkündigungsauftrag „näher dran“ als ein Wäschereimitarbeiter, weshalb für den Wäschereimitarbeiter weniger strenge Loyalitätspflichten zu gelten hätten als für den Geistlichen.

    So bestechend der Gedanke ist – er geht von falschen verfassungsrechtlichen Grundlagen aus, weshalb der Vorschlag in die Verfassungswidrigkeit liefe, und stellt außerdem das Konzept der Freiheit auf den Kopf. In der grundlegenden Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zu den Loyalitätspflichten kirchlicher Arbeitnehmer heißt es: „Welche kirchlichen Grundverpflichtungen als Gegenstand des Arbeitsverhältnisses bedeutsam sein können, richtet sich nach den von der verfaßten Kirche anerkannten Maßstäben… Im Streitfall haben die Arbeitsgerichte die vorgegebenen kirchlichen Maßstäbe für die Bewertung vertraglicher Loyalitätspflichten zugrunde zu legen, soweit die Verfassung das Recht der Kirchen anerkennt, hierüber selbst zu befinden. Es bleibt danach grundsätzlich den verfaßten Kirchen überlassen, verbindlich zu bestimmen, was ‚die Glaubwürdigkeit der Kirche und ihrer Verkündigung erfordert‘, was ‚spezifisch kirchliche Aufgaben‘ sind, was ‚Nähe‘ zu ihnen bedeutet, welches die ‚wesentlichen Grundsätze der Glaubenslehre und Sittenlehre‘ sind und was als – gegebenenfalls schwerer – Verstoß gegen diese anzusehen ist… Auch die Entscheidung darüber, ob und wie innerhalb der im kirchlichen Dienst tätigen Mitarbeiter eine ‚Abstufung‘ der Loyalitätspflichten eingreifen soll, ist grundsätzlich eine dem kirchlichen Selbstbestimmungsrecht unterliegende Angelegenheit“. Nun mag man dazu sagen: „Dann muss eben die Rechtsprechung geändert werden“. Doch abgesehen davon, dass „Karlsruhe“ bekanntermaßen einen souveränen Umgang mit Interpretationsvorschlägen an den Tag legt, steht hinter seiner Ablehnung der „Theorie der abgestuften Loyalitätspflichten“ ein Konzept der Freiheit, das nicht nur für das Selbstbestimmungsrecht der Religionsgemeinschaften, sondern für die Grundrechtsinterpretation insgesamt gilt:

    Mit dem Vorschlag von Beck muss entschieden werden, was innerhalb und was außerhalb der Verkündigung steht. Die Frage, wer das bestimmt, ist dabei Teil der allgemeineren Frage, wer den Inhalt der Grundrechte bestimmt. Beispiel zur Meinungsfreiheit, Art. 5 Abs. 1 Grundgesetz (GG): Wer bestimmt, was meine Meinung zu einer bestimmten Frage ist? Beispiel zur Glaubensfreiheit, Art. 4 Abs. 1 und 2 GG: Wer bestimmt, woran ich glaube? Beispiel zur allgemeinen Handlungsfreiheit, Art. 2 Abs. 1 GG: Wer bestimmt, was ich tue oder unterlasse? Die Antwort lautet jedes Mal: Ich selbst, es ist meine Freiheit! Das ist die subjektive Grundrechtsinterpretation im Gegensatz zur objektiven, bei der ein anderer (wer eigentlich?) den Inhalt meiner Freiheit bestimmte. Und diese subjektive Interpretation entspricht seit Jahrzehnten derjenigen des Bundesverfassungsgerichts. Mit diesem Konzept der Freiheit lautet die Antwort auf die durch Becks Vorschlag aufgeworfene Frage, wer bestimmt, was innerhalb und was außerhalb der Verkündigung steht, dass dies nur von der jeweiligen Religionsgemeinschaft bestimmt werden kann, nicht vom AGG und nicht von der Antidiskriminierungsrichtlinie. Alles andere ist Fremdbestimmung, nicht Selbstbestimmung.

    Dennoch ist der Gedanke der Abstufung richtig. Diese darf aber nicht einseitig vom Staat dekretiert werden, sondern muss von den Religionsgemeinschaften vorgenommen werden. Freilich mag der dazu notwendige dialogische Prozess politisch als der weniger wirkungsvolle erscheinen und sich nach außen schlechter „verkaufen“ lassen, er ist aber der der Sache angemessene. Mangelnden Erfolg kann man ihm jedenfalls nicht vorwerfen: Das zeigt ein Vergleich zwischen den kirchlichen Normen zur Zeit der oben zitierten Rechtsprechung und den aktuellen: Allenthalben finden sich nun Abstufungen. Er sollte daher fortgesetzt werden.

    II. Tendenzschutz

    Den Tendenzschutz konfessioneller Einrichtungen will Beck solange respektieren, wie deren Anzahl dem Bedarf entspreche. Hier gebe es allerdings „ein gesellschaftliches Spannungsverhältnis“, welches er dadurch lösen will, dass „die Zahl kirchlicher Einrichtungen, die dem kirchlichen Tendenzschutz unterliegen, am Anteil der jeweiligen Konfession in der Bevölkerung zu orientieren“ sei. „Überzählige“ Einrichtungen könnten bestehen bleiben, jedoch ohne Tendenzschutz.

    Ein solches Proporzmodell steht mit dem skizzierten Konzept der Freiheit nicht in Einklang. Es hat zweierlei zur Folge: Zum einen müsste ein Entscheidungsgremium eingesetzt werden, das den Bedarf regelmäßig ermittelte und stets nach den Unter- und Übermaßkriterien des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes anpasste. Es steht zu befürchten, dass eine Einrichtung einmal den Tendenzschutz gewänne, ein anderes Mal wieder verlöre. Ein derartiges Wechselspiel wird der Sache in keiner Weise gerecht. Vorhersehbarkeit und Planbarkeit wären so nicht gegeben, die Bereitschaft, sich zu engagieren, wäre erstickt – von dem Verwaltungsmonster einer weiteren Kommission ganz zu schweigen.

    Zum andern entstünde ein Zwei-Klassen-System konfessioneller Einrichtungen: derjenigen, die den Tendenzschutz genießen dürften, und „dem Rest“. Es gäbe also fortan Kindergärten von Religions- oder Weltanschauungsgemeinschaften, die „echt“ christlich, jüdisch, muslimisch, humanistisch etc. wären und in denen der Tendenzschutz gälte, und den „unechten“. Die „unechten“ dürften sich dann zwar noch christlich, jüdisch, muslimisch, humanistisch etc. nennen, es aber nicht mehr sein. Das ist nicht nur, wie beschrieben, mit dem Selbstbestimmungsrecht der Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften nicht zu vereinbaren, sondern widerspricht auch der Neutralität des Staates, der sich zwischen „echt“ und „unecht“ kein Urteil erlauben darf.

    Becks Proporzmodell baut offenbar auf der Vorstellung auf, dass jeder Konfessionsangehörige nur die Einrichtungen aufsucht, deren Konfession er angehört. Das Leben ist jedoch anders, und das ist sehr gut so! Erfreulicherweise scheuen sich beispielsweise viele konfessionell Gebundene nicht, das Hospiz, das Pflegeheim, das Krankenhaus, den Kindergarten einer anderen Konfession aufzusuchen. Und existieren denn genug und an allen Orten Einrichtungen aller Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften mit ausreichenden Kapazitäten? Wohl kaum! Den Bedarf nach konfessionellen Anteilen zu bemessen, wird daher der Wirklichkeit nicht gerecht. Ein Bedarf entsteht dadurch, dass eine Einrichtung in Anspruch genommen werden muss, nicht durch konfessionellen Proporz. Dass sie in Anspruch genommen wird, ist Zeichen ihres Erfolgs. In Becks Modell wird der Erfolg zum Verhängnis.

    III. Dritter Weg

    Dem Grundgesetz kann kein bestimmtes Modell zur Festlegung der Lohn- und Arbeitsbedingungen entnommen werden. Der Erste Weg, bei dem der Arbeitgeber (etwa der Staat) die Bedingungen festlegt und Streiks und Aussperrungen (seiner Beamten) ausgeschlossen sind, ist ebenso verfassungskonform wie der – bekannteste – Zweite Weg, bei dem die Bedingungen von Arbeitgeber- und Arbeitnehmervertretungen ausgehandelt und in einem Tarifvertrag festgehalten werden, u.U. begleitet von Streiks und Aussperrungen. Der Dritte Weg stellt einen Mittelweg dar: Arbeitskampfmaßnahmen sind zwar ausgeschlossen, die Lohn- und Arbeitsbedingungen werden aber nicht allein vom Arbeitgeber, sondern von zahlenmäßig von Arbeitgeber- und Arbeitnehmerseite paritätisch besetzten Kommissionen festgelegt.

    Auch wenn ich nicht Becks Ansicht teile, dass der Dritte Weg bei Werkverträgen, Leiharbeit und Lohndumping seine Berechtigung verliert, denn dann müsste der Zweite Weg ebenfalls seine Berechtigung verlieren, stimme ich dem damit verbundenen Anliegen zu. In einer Kirche, die ihrem Auftrag und dem Mitmenschen verpflichtet und zugewandt ist, darf es keine Lohn- und Arbeitsbedingungen geben, die diesem Leitbild nicht entsprechen. Das ist aber keine Frage des Dritten Weges oder des Zweiten oder des Ersten, also der Technik, wie Lohn- und Arbeitsbedingungen festgelegt werden, sondern weit mehr: Es ist eine Frage von Rechtschaffenheit und Wahrhaftigkeit, von Vertrauenswürdigkeit und Glaubwürdigkeit. Sonst delegitimiert sich die Kirche selbst.

    IV. Fazit

    Insgesamt ist der Eindruck von Becks Thesen, dass diese sehr eng nur die Kirchen in den Blick nehmen. Wichtig scheint mir jedoch zu sein, bei etwaigen Reformbestrebungen von vornherein alle Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften im Auge zu haben, die großen wie die kleinen, die jungen wie die alten. Auch im Hinblick darauf sind die Thesen I und II problematisch. These III stimme ich in ihrem Anliegen zu, nicht aber in ihrer Schlussfolgerung. Mindestens ebenso wichtig wie der Blick auf das ganze Spektrum der Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften ist der Blick auf den Staat: Daseinsvorsorge ist nicht notwendigerweise allein eine Aufgabe des Staates, aber sie ist zumindest auch seine Aufgabe. Hier stellt sich die Frage, ob er selbst genug getan hat, um dem Bedarf zu entsprechen, und ob er sich in den Gebieten, in denen der von Beck angesprochene Monopolcharakter besteht, nicht mehr engagieren muss. Die Probleme der von Beck angesprochenen Themenfelder sind jedenfalls keine, die auf der Ebene des Schutzbereichs gelöst werden können, sondern solche, die auf der Ebene der Rechtfertigung zu lösen sind.

    Justitiar der Erzdiözese Freiburg, Lehrbeauftragter für Staatskirchenrecht und Kirchenrecht an der Universität Heidelberg und Gründer des Informationsportals „Religion – Weltanschauung – Recht [ RWR ]“, Mitglied im Beirat des Forums Offene Religionspolitik