Europa: Wir brauchen ein Bekenntnis zu Vielfalt und Unterschieden

    Die Gewinner der Wahlen zum Europäischen Parlament sind die europakritischen Parteien. Paradoxerweise könnte die Europaskepsis im Parlament jedoch abnehmen, wenn durch das Ergebnis aufgeschreckt Christdemokraten, Sozialdemokraten und Liberale enger zusammenrücken und ein Bekenntnis zur europäischen Einheit – und zu mehr Kompetenzen für Brüssel – ablegen. Ich glaube, dass wir statt dieses Bekenntnisses zu mehr Einheit ein Bekenntnis zu mehr Vielfalt brauchen.

    Während in Deutschland das Subsidiaritätsprinzip gefeiert wird, die Devolution in Großbritannien mehr Kompetenzen zu den einzelnen Landesteilen verlagert und sogar die zentralistischen Staaten Frankreich und Spanien ihre Regionen stärken, gilt auf europäischer Ebene allzu häufig: Wer nicht für mehr Kompetenzen in Brüssel ist, ist gegen die Europäische Union. Mit dieser Einstellung überlassen die gemäßigten Parteien Europas ein großes Wählerpotential für populistische Parteien links- und rechtsaußen. Vielfalt wird auf die Extreme beschränkt, in der Mitte herrscht Einfalt.

    Verstärkt wird diese Tendenz dazu, dass die Medien nicht über Meinungsverschiedenheiten innerhalb des Parlaments berichten. „Das Europäische Parlament hat entschieden…“, berichten Journalisten, schlüsseln dabei aber regelmäßig nicht auf, welche Fraktion oder welche nationale Delegation wie gestimmt hat. Nicht einmal wie die Abgeordneten aus dem eigenen Land abgestimmt haben, wird für erwähnenswert gehalten. So wächst der Eindruck, dass es irrelevant ist, wie das Kräfteverhältnis in Straßburg aussieht. Wen wundert es da, dass in etlichen Staaten nicht einmal jeder vierte Wähler zur Urne ging? Der Nichtwähler wird oft als „wahlmüde“ bezeichnet. Ich glaube eher, er sieht keinen Wert darin zur Wahl zu gehen. Und kann ihn verstehen.

    Auch wenn das Europäische Parlament inzwischen häufiger im Fokus steht, so darf dies nicht darüber hinweg täuschen, dass die Misere vor allem die nationalen Regierungen verantworten, die zwar öffentlich über neue Vorgaben aus Brüssel schimpfen, tatsächlich aber über den Ministerrat immer mehr Regeln einfordern. Das Europäische Parlament hingegen hat nicht einmal das Initiativrecht, um mehr Vorgaben von sich aus einzubringen. Dennoch zeigt sich mangelnder Respekt vor der Vielfalt Europas, wenn der bisherige Parlamentspräsident mit religionspolitischen Fragen Wahlkampf betreibt.

    Eine wirkliche Akzeptanz der Europäischen Union erreichen wir nur, wenn neben „Mehr Europa“ auch „Weniger Europa“ eine anerkannte politische Option ist, die nicht den radikalen Rändern überlassen wird. Die gemäßigten Fraktionen des Parlaments müssen streitbarer und stärker voneinander unterscheidbar werden. Vielleicht sind sie das schon. Dann müssen die Medien diese Unterschiede aber auch stärker transportieren. Nur wenn sich jeder Bürger im Europäischen Parlament vertreten fühlt, kann das Parlament auch mit Akzeptanz und Unterstützung rechnen. Nur das, was Vielfalt abbildet, kann Vielfalt auch vertreten.

    Regionale und kulturelle Unterschiede sind eine Stärke der EU, nicht ihre Schwäche. Die USA sind ein mahnendes Beispiel dafür, was passiert, wenn zu viele Belange – insbesondere religionspolitische – zentral ausgefochten und entschieden werden. Das Ergebnis ist weniger Einheit in Vielfalt als ein ständiger Kulturkampf. Davor sollten wir uns in Europa hüten. Besonders dann, wenn uns friedliches Miteinander und der fruchtbare Austausch von Kulturen, Religionen und Weltanschauungen am Herzen liegt.

    Bild: Arik Platzek

    Dr. Sven Speer ist Vorsitzender des Forums Offene Religionspolitik (FOR) seit dessen Gründung 2011. Als Mitarbeiter und im Rahmen von Vorträgen und Gutachten berät er Regierungsorganisationen, Abgeordnete, Religionsgemeinschaften und Verbände zum Verhältnis von Staat und Religion – u.a. in Berlin, Jerusalem, Beirut, Kairo, Washington D.C., Houston und Salt Lake City. Er ist darüber hinaus Co-Founder von inteero, einer Plattform für Online-Einrichtungsberatung. Speer hat Politikwissenschaft und Geschichte studiert und am Exzellenzcluster ‚Religion und Politik‘, am German Marshall Fund of the United States und am Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien zur politischen Regulierung von Religion geforscht.