Zehntausende protestieren auf dem Taksimplatz, dem Geziplatz und an vielen weiteren Orten in der Türkei gegen eine Staatsführung, die ihnen fremd geworden ist. In der Türkei erklingt der Ruf nach Freiheit aus zahlreichen Kehlen – nicht zum ersten Mal, vielleicht aber dieses Mal mit nachhaltigem Erfolg.

Einen großen Schritt in Richtung Freiheit unternahm die Türkei unter ihrem ersten Staatspräsidenten Mustafa Kemal Atatürk. Ab 1922 trieb er Reformen in erstaunlichem Tempo voran. Der Sultan des Osmanischen Reiches war zugleich Kalif und damit religiöses Oberhaupt. Diese Praxis schaffte die kemalistische Türkei ab. Frauen wurden mit Männern rechtlich gleichgestellt und bekamen Zugang zu schulischer und universitärer Bildung. Das vorher stark islamisch gefärbte Recht wurde durch europäische Gesetzbücher abgelöst. Atatürk begnügte sich jedoch nicht damit, den Menschen seines Landes neue Chancen zu eröffnen. Nein, er wollte den Wandel erzwingen. So verbot er Frauen die Verschleierung in öffentlichen Einrichtungen und Männern das Tragen des Fes‘ in der gesamten Öffentlichkeit. Die mystischen Sufi-Orden wurden verboten. Kurzum: Der soziale Wandel sollte nicht nur ermöglicht werden, sondern erzwungen werden. Was als Befreiung startete, wurde zu einem tiefen Einschnitt in die Rechte vieler Menschen.

Den nächsten großen Vorstoß zu mehr Freiheit unternahm Recep Tayyip Erdoğan – auch wenn es heute schwer fällt, das zu glauben. Die kemalistische Türkei sicherte zwar die Freiheit vieler säkularer und/oder kemalistischer Türken, verweigerte die Freiheit aber für viele religiöse Menschen: für sunnitische Muslime wie auch für die christlichen Kirchen im Land. Seit die AKP 2002 die Regierungsverantwortung übernommen hat, wurden Freiheiten für religiöse Menschen gewonnen. Die religiöse Mehrheit in der türkischen Bevölkerung konnte unter Erdoğan wieder stärker am öffentlichen Leben teilnehmen. Seine eigene Frau trägt Kopftuch, was für die Kemalisten ein Skandal ist. Seine Regierung hatte auch das Kopftuchverbot für Studierende an öffentlichen Universitäten aufgehoben – diese Reform hat das Verfassungsgericht allerdings wieder rückgängig gemacht. Letztlich begnügt sich aber auch Erdoğan nicht damit, den religiösen Menschen seines Landes neue Chancen zu eröffnen. Auch er will der Gesellschaft seinen Stempel aufdrücken. Er positionierte sich radikal gegen Schwangerschaftsabbruch und Kaiserschnitt und kürzlich wurde ein Gesetz verabschiedet, das faktisch einem Alkoholverbot in weiten Teilen der Türkei gleich kommt. Derzeit stellt er friedliche Demonstranten als Kriminelle, Betrunkene und Terroristen dar und versucht sie mit Tränengas und Knüppeln niederzuringen.

Die vergangenen Ansätze in der ‚Freiheitspolitik‘ der Türkei haben viel zu oft den Menschen keine Freiheit gegeben, ihren eigenen Weg zu finden. Stattdessen war die ‚Freiheit‘, die die Staatsführung im Auge hatte, stets sehr eng umrissen. Nur wer dem Wunschbild der politischen Führung entsprach, galt als frei – alle anderen mussten vom Staat noch ‚befreit‘, also umerzogen werden.

Freiheit aber ist immer auch die Freiheit des Andersdenkenden. Menschen sind nur dann frei, wenn sie sich für einen eigenen Lebensweg entscheiden können – ganz gleich, was in den Augen anderer Menschen Ausdruck von Freiheit sein mag. Die Kraft der aktuellen türkischen Freiheitsbewegung liegt darin, dass sie so vielfältig ist. Die Demonstrierenden teilen aufgrund ihrer Vielfalt keinen gemeinsamen Gesellschaftsentwurf. Ein Großteil von ihnen will nicht weiter als das eigene Leben nach eigenen Vorstellungen zu leben. Wenn sie sich dieser Gemeinsamkeit über die Demonstrationen hinaus bewusst sind, ist das ein großer Erfolg für die Freiheit. Ich hoffe, dass sie mit ihrem Engagement für mehr Freiheit Erfolg haben werden. Was die Türkei nicht braucht, ist ein drittes Projekt der staatlichen Umerziehung.

Dr. Sven Speer ist Vorsitzender des Forums Offene Religionspolitik (FOR) seit dessen Gründung 2011. Als Mitarbeiter und im Rahmen von Vorträgen und Gutachten berät er Regierungsorganisationen, Abgeordnete, Religionsgemeinschaften und Verbände zum Verhältnis von Staat und Religion – u.a. in Berlin, Jerusalem, Beirut, Kairo, Washington D.C., Houston und Salt Lake City. Er ist darüber hinaus Co-Founder von inteero, einer Plattform für Online-Einrichtungsberatung. Speer hat Politikwissenschaft und Geschichte studiert und am Exzellenzcluster ‚Religion und Politik‘, am German Marshall Fund of the United States und am Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien zur politischen Regulierung von Religion geforscht.